Sigmund Freud - Jude ohne Gott
Gleich vorweg: Wer sich mit der Figur des Sigmund Freud ein wenig auskennt, sein Leben und Wirken studiert hat, der wird bei diesem Film nichts Neues erfahren. Doch das ist weniger gewichtig als man annehmen könnte. Zwar zeichnet Regisseur David Telmour das Leben des nicht unumstrittenen Psychoanalytikers chronologisch nach, tut dies jedoch mit Aufnahmen, die man so noch nicht von Freud gesehen hat, und bringt die jüdische Herkunft des Mannes mit ins Spiel. Der Film verzichtet vollständig auf Interviews, wohl verständlich, wen sollte man auch zu Freud und seinem Leben befragen, wenn nicht ihn selbst, oder seine Tochter Anna. Letztere führt, gesprochen von der österreichischen Schauspielerin Birgit Minichmayr, durch den Film. Telmour bedient sich zahlreicher Tagebucheinträge, Briefe und sonstiger Informationsschnipsel, die allesamt sehr privat, teils recht intim daherkommen. So blickt der Film hinter die Galionsfigur der Psychoanalyse, hinter die ikonische Gestalt mit dem weißen Bart und der Zigarre. Wir lernen Freud neu kennen, als Familienmensch, der das Spielen mit seinen Hunden liebt, und um seine Tochter Sophie trauert, als die den Kampf gegen die Spanische Grippe verliert. Natürlich wird der berufliche Werdegang Freuds nicht ausgeklammert. Wie er zum Arzt wurde, in die Berggasse 19 zog, wo er bis zu seinem Fortgehen aus Wien wohnte, wie er erste Veröffentlichungen tätigte, Träume erforschte und sich mit Breuer auf die Hysterie stürzte, wie er den jüngeren C.G. Jung kennenlernte, seinen Freund nannte und letztlich mit ihm brach, wie er mit der Kritik seiner Kollegen umgehen musste, und schließlich den Niedergang der Demokratie in Österreich erlebte, als Hitler an die Macht und das Hakenkreuz nach Wien kam. In England fand Freud 1938 sein Exil, und besonders dieser letzte Abschnitt seines Leben brachte eine Reihe privater Filmaufnahmen zu Tage, Aufnahmen, die bisher nicht öffentlich einsehbar waren und nun im Film von David Telmour prominent präsentiert werden. Wir sehen darauf einen gealterten Freud, der viel sitzt oder liegt, oder selten in seinem Garten umherwandert, stets raucht und liest und von seiner Familie umgeben ist. Es sind rührende Bilder, die man dem ansonsten oft arrogant und selbstverliebt wirkenden Theoretiker gar nicht zugeschrieben hätte. „Jude ohne Gott“ ist ein Film wie ein Gedankenstrom. Die einzelnen Elemente, Archivaufnahmen der Familie, historische Aufnahmen der jeweiligen Zeit, abstrakte Collagen, all das fließt ineinander über und erzeugt ein wohliges Gefühl. Ein Film für einen regnerischen Nachmittag, der Lust auf mehr Freud macht. Der Titel bezieht sich auf Ödön von Horváth und beschreibt das Verhältnis Freud zu „seiner“ Religion. Er bezeichnete sich als Atheist, hat sich aber dennoch zum Judentum bekannt. Ein Widerspruch? In seinen Worten nicht, und die an dieser Stelle wiederzugeben wäre müßig. Vielmehr sollte man sich diesen Film anschauen, wenn man auch nur ansatzweise etwas mit Freuds Theorien oder dem Menschen dahinter anfangen kann. Und wer sich noch gar nicht damit beschäftigt hat, findet hier natürlich einen idealen Einstieg. Eine Einladung, 90 Minuten lang zu träumen. Doch Vorsicht: Die Deutung des Geträumten wird den Zuschauern überlassen.