Society | Schere

Südtiroler Schattenseite

Die Caritas legt den Finger in die Wunde und zeigt die Kehrseite von Wirtschaftsaufschwung und Reichtum auf. Der Titel des Wirkungsberichts 2017: “Das andere Südtirol.”
Weiß-Rot
Foto: Pixabay

“Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s allen gut.” Vom Marketingslogan, den unter anderem die Österreichische Wirtschaftskammer für eine Kampagne verwendete, lässt man sich in Südtirol nicht in die Irre führen. Ja, die offiziellen Daten belegen: Die hiesige Wirtschaft befindet sich im Aufschwung, die Arbeitslosenrate sinkt, die Beschäftigung steigt, der Tourismus boomt, auch das Baugewerbe erholt sich wieder.
Bei der Caritas bestreitet man diese sonnigen Aussichten nicht. Doch ebensowenig lässt man sich blenden – und zeigt die Schattenseiten auf. “Es gibt da noch dieses ‘andere Südtirol’, die Kehrseite des Wirtschaftsaufschwungs”, heißt es am Mittwoch, als die Caritas ihren Wirkungsbericht 2017 präsentiert. Dieser belegt: Immer mehr Menschen schaffen es nicht, mit dem wirtschaftlichen Druck nicht Schritt halten.

Die Bilanz von Caritas-Direktor Paolo Valente fällt nüchtern aus: “Armut ist leider die Kehrseite einer auf Leistung und Konkurrenz fußenden Gesellschaft und soziale Ausgrenzung die Kehrseite von sozialem Aufstieg. Für manche Menschen mag der steigende Wohlstand zwar Reichtum bringen, die Kluft zu den sozial Benachteiligten wird dadurch aber noch größer. Das bringt sie in Bedrängnis, weil sie sich noch schwerer tun, mit dieser Gesellschaft mitzuhalten. Wir haben das in den meisten unserer Dienste beobachtet.”

Dienste für einkommensschwache, benachteiligte und Menschen, die aus den verschiedensten Gründen aus der Bahn geworfen wurden, gibt es bei der Caritas mehrere. Dort kümmert man sich um seelische und materielle Not, um Wohn- und Obdachlosigkeit, um Flucht und Migration, Begleitung und Betreuung in schwierigen Lebensphasen. Und Valente weiß zu berichten: “2017 hat bei einigen Anlaufstellen nicht die Zahl der Hilfesuchenden zugenommen, sondern die Intensität der Beratungen und der Begleitungen.”

Leben am Minimum

Besonders zu schaffen machen den Hilfesuchenden beispielsweise die hohen Wohn- und Lebenshaltungskosten, heißt es am Mittwoch. “Viele unserer Klienten haben zwar eine Arbeit, beziehen aber einen zu geringen Lohn, um mit diesen hohen Preisen mithalten zu können”, erklärt Stefan Plaikner. Er ist für die beiden Caritas-Dienste Schuldnerberatung und Sozialberatung verantwortlich, an welche sich vorwiegend Personen mit finanziellen Schwierigkeiten wenden.
In beiden Diensten wurden 2017 insgesamt 1.751 Männer und Frauen vorstellig. Bei vielen ging es dabei vordergründig um Schwierigkeiten bei der Bezahlung von Miete und Mietnebenkosten sowie um die Existenzsicherung.

Unverschuldet obdachlos

Die Schwierigkeit mancher Menschen, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung mithalten zu können, zeichnet sich auch in den neun Einrichtungen für Wohn- und Obdachlose ab, die die Caritas führt. “Sie verzeichneten 2017 alle einen ähnlich hohen, bei manchen sogar noch höheren Andrang als im Jahr zuvor”, berichtet Danilo Tucconi, Caritas-Verantwortlicher für den Bereich “Wohnen”. Die Gästezahl lag 2017 bei knapp 800 Frauen und Männern. “Dabei nehmen besonders die Personen mit Migrationshintergrund, Abhängigkeitserkrankungen und psychischen Problemen zu. Sie fallen sowohl auf dem Arbeits- als auch auf dem Wohnungsmarkt total durch den Rost und auch öffentliche Einrichtungen kümmern sich nicht oder nur unzureichend um sie”, klagt Tucconi an.

Ein relativ neues Phänomen sei, dass zunehmend mehr junge Menschen Einrichtungen der Caritas aufsuchen. Zum Beispiel das Haus Margaret, dem Obdachlosenhaus für Frauen in Bozen. Dort waren von 46 betreuten Frauen im Jahr 2017 neun unter 30 Jahre alt und elf unter 40 Jahre. Auch beim Bahngleis 7, der Anlauf- und Betreuungseinrichtung für Suchtkranke in Bozen, wurden vermehrt junge Menschen im Alter von 18 und 24 Jahren vorstellig. “Sie stammen zumeist nicht aus Familien mit großen ökonomischen, sozialen und/oder persönlichen Problemen. Vielmehr handelt es sich hier um ein Phänomen, das darüber hinausgeht und möglicherweise auch Folge eines zu oberflächlichen Wohlstandes oder von Kontaktarmut bzw. Armut an menschlichen Beziehungen ist”, weiß Tucconi.

Auf der Flucht angekommen?

Nach wie vor hoch war 2017 der Bedarf an Unterstützung bei den Diensten, die sich um Zuwanderer, Asylwerber und Flüchtlinge kümmern. Die Caritas führt elf Flüchtlingshäuser, in denen vergangenes Jahr mehr als 600 Personen beherbergt wurden. “Während es in der Anfangszeit vor allem darum ging, die ganze Flüchtlingsarbeit aufzubauen, liegt der Schwerpunkt nun bei der Integration sowie in der Unterstützung bei der Arbeits- und Wohnungssuche”, führt Alessia Fellin aus. Sie ist verantwortlich für den Flüchtlingsbereich der Caritas. “Dank intensiver Bemühungen ist es uns gelungen, dass 60 Prozent der Bewohner unserer Häuser im vergangenen Dezember eine Beschäftigung hatten.”

Neben der Arbeit sei auch das Wohnen ein großes Thema, so Fellin: “Die meisten Bewohner, die in den vergangenen zwei Jahren unsere Häuser verlassen mussten, haben dank unseres Auszugsmanagements eine Unterkunft in Südtirol gefunden. In Zahlen ausgedrückt waren das im Jahr 2017  insgesamt 49 begleitete Fälle, neun davon Familien, also insgesamt 73 Personen.”

“Doch der Wohlstand unseres Landes hat gerade auch für Zuwanderer seinen Preis”, heißt es am Mittwoch. Das zeige sich etwa an der hohen Zahl an betreuten Personen in den Beratungseinrichtungen für Migranten: Die Flüchtlingsberatung in Bozen verzeichnete mit 1.740 Nutzern die höchste Betreutenzahl seit ihrem Bestehen, ebenso die MigrantInnenberatung Moca in Meran (1.197 Klienten – auch das fast eine Verdoppelung im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren).

Körper…

Für manche Personen geht es aber auch um die Abdeckung elementarster Bedürfnisse, wie etwa Essen. Das zeigt sich besonders in den Essensausgabestellen der Caritas. In der Essensausgabe Clara in Bozner Bahnhofsnähe beispielsweise hat sich die Zahl der Gäste in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt: 2017 erhielten hier 1.483 Personen zumindest eine warme Mahlzeit am Tag.

… und Seele

Doch auch die seelischen Nöte machen den Menschen in Südtirol weiterhin zu schaffen, “auch wenn die Zahl der Hilfesuchenden bei den Caritas-Diensten in diesem Bereich leicht rückläufig sind”, melden die Verantwortlichen. Doch auch hier lasse sich festmachen, dass viele mit den hohen Leistungsanforderungen nicht zurechtkommen, an Einsamkeit und Ausgrenzung leiden, vermehrt zu Suchtmitteln greifen und psychisch unter Druck stehen.

“Armut und Reichtum sind zwei Seiten einer Medaille, die nur schwer miteinander zu vereinen sind, wenn diejenigen, die von der positiven Wirtschaftsentwicklung profitieren nicht auch auf jene schauen, die dabei das Nachsehen haben.”
(Caritas-Direktor Paolo Valente)


Einen Lichtblick gibt es doch: Nach wie vor bringen sich zahlreiche Menschen freiwillig in den verschiedenen Caritas-Diensten ein. “Ohne die Zusammenarbeit und Unterstützung unserer zahlreichen freiwilligen Helferinnen und Helfer – insgesamt 5.000 – wäre das schlicht unmöglich. Sie wenden eines ihrer kostbarsten Güter auf, nämlich Zeit, um für andere Menschen da zu sein”, zeigt sich Direktor Valente zuversichtlich. Eine wichtige Rolle spielten die Pfarreien “als lokales Bindeglied innerhalb der Gesellschaft”.