Society | Zebra
Ein Stück Geschichte
Foto: Georg Hofer
An einem sonnigen Nachmittag hantiert Abdulwahid Al Shami in seiner Werkstatt im Erdgeschoss eines Dorfhauses in Girlan mit einem lädierten Zoologie-Buch aus dem 17. Jahrhundert. „Woasch“, sagt er, „ich retuschiere nicht, ich restauriere – man darf dem Buch sein Alter ansehen!“ Die Aufgabe des Restaurators sei es lediglich, etwas zu erhalten. Die Geduld und die Liebe zum Detail stehen dem großen Mann mit den dunklen Augen und den dichten Locken ins Gesicht geschrieben. Mit ruhiger Stimme und bedachten Gesten erklärt er die aufwändigen Techniken, mit denen er Büchern und Papieren aller Art neues Leben einhauchen kann und er erzählt ganz nebenbei auch, dass er genaugenommen durch einen großen Zufall zum Restaurieren gekommen ist.
Es wäre heute alles ganz anders, wenn der junge Abdulwahid damals in seiner Heimatstadt Sanaa im Jemen nicht zufällig zwei Herren aus Deutschland kennengelernt hätte. Nach dem Abitur hatte er eine Stelle im Krankenhaus angenommen und fuhr nebenbei Taxi. Eines Nachmittags hielt er am Straßenrand an, um zwei Männer mitzunehmen. Die Fahrgäste aus Deutschland berichteten ihm, dass sie an einem Restaurierungs-Projekt arbeiteten. “Ich hatte vorher noch nie etwas von Restaurierungen gehört, obwohl mich alte Dinge schon als Kind faszinierten“, erzählt der Restaurator. Er brachte die Männer zum Flughafen. Auf dem Rückweg bemerkte er, dass einer von ihnen sein Fernglas im Auto vergessen hatte. Er kehrte um, aber das Flugzeug war schon in der Luft. Weil die Männer gesagt hatten, dass sie in einem Jahr zurückkehren würden, machte sich Abdulwahid um dieselbe Zeit im Jahr darauf jeden Dienstag, sobald die Air-France-Maschine aus Europa ankam, auf den Weg zum Flughafen. Dort wartete er um zu sehen, ob die beiden Männer zurückkehrten und er ihnen das Fernglas zurückgeben konnte. Und siehe da: Eines Tages erkannte er unter den Ankommenden einen der Männer wieder. „Er sah mich vollkommen verwirrt an und fragte mich: ‚Waren wir verabredet?‘“, erinnert sich Abdulwahid und schmunzelt. Der Mann aus Deutschland war begeistert von so viel Mühe und bot dem jungen Abdulwahid an, für die Zeit des Projektes als Fahrer zu arbeiten. „So kam ich dieser Arbeit ein Stückweit näher!“
Abdulwahid legt ein stark beschädigtes Stück Papier auf den Leuchttisch in der Mitte seiner Werkstatt und drückt auf einen Knopf. Licht durchscheint das Blatt und bringt Flecken und Fehlstellen zum Vorschein. „So kann ich sehen, wo ich Papier ergänzen und Verunreinigungen entfernen muss“, erklärt er. Dafür legt er das Blatt auf eine Saugplatte, die aufgeträufelte Flüssigkeiten und Verunreinigungen aus dem Papier saugen kann. Auch zerkleinerte Faserstückchen kann er damit fixieren und löchrige Stellen schließen. Je nach Stärke der Schäden, Flecken und Papierqualität muss der Restaurator seine Vorgehensweise genau abwägen und darüber Buch führen, „ein bisschen wie bei einem Kranken“, scherzt er. Abdulwahid dokumentiert jeden Schritt und am Ende legt er dem restaurierten Objekt einen Bericht bei. „Das Gewissen spielt bei dieser Arbeit eine große Rolle“, sagt er. Schließlich würde niemand bis ins kleineste Detail kontrollieren können, ob eine Restaurierung gewissenhaft gemacht wurde.
Den tatsächlichen Aufwand für eine Restaurierung im Vorfeld einzuschätzen, ist kaum möglich. Auf die Frage nach der Zahl der Arbeitsstunden für das zerfledderte Buch, das er gerade vor sich ausbreitet, antwortet der Restaurator mit einem müden Lächeln: „Es sind fast immer viel mehr als gedacht, weil ich alles erhalten will, was möglich ist.“ Aber das nehme er in Kauf, denn die Verantwortung sei groß – nicht bloß den Besitzern eines besonderen historischen Buches gegenüber sondern in erster Linie kommenden Generationen gegenüber, denen ein Stück Geschichte erhalten bleiben soll. Diesem Grundsatz folgte er auch, als er in den Neunziger Jahren für die Universitätsbibliothek Göttingen in verschiedenen arabischen Ländern unterwegs war, um dort im Rahmen von Projekten zum Erhalt von Kulturgütern Kurse im Restaurieren zu geben. Eine dieser Reisen führte ihn nach Damaskus, wo er seinen Schüler*innen möglichst viel beibringen wollte und deshalb in der Bibliothek „Das Schlimmste, was Sie haben!“ bestellte. Als die Verantwortliche der Bibliothek aber erfuhr, dass der Restaurator das kostbare Buch in Wasser legen würde, weigerte sie sich, es auszuhändigen. Nur mit seinem ganzen Charme konnte Abdulwahid die besorgte Frau überreden. Er sagte zu ihr: „Wenn etwas passiert, können Sie mich auf dem großen Platz in Damaskus aufhängen!“ Der Restaurator lacht herzlich und fügt schnell hinzu: „Aber ich wusste natürlich, dass ich es machen kann!“ Die Arbeit an diesem jahrhundertealten arabischen Manuskript war etwas ganz besonderes für ihn. Ein Vorher-Nachher-Foto an der Wand neben seinem Arbeitstisch erinnert daran.
Hinter dem Tisch mit der Saugplatte stehen auf einem Schrank ein Bügeleisen, ein Mixer und ein Wasserkocher. „Jedes Küchengerät hat bei mir einen etwas ungewöhnlichen Job“, scherzt Abdulwahid. Mit heißem Wasser und Alkohol rückt er den Schimmelflecken auf einer historischen Schautafel zu Leibe. Ein Fleck müsse nicht ganz verschwinden, aber er solle dem Rest nicht die Schau stehlen: „Wenn der Wasserfleck vor der Schrift ‚Ich bin da!‘ sagt, dann sage ich: ‚nein – du gehst jetzt ein bisschen!‘“
Damals, als bei dem Restaurierungs-Projekt in Sanaa alles begann, entdeckte Abdulwahid seine Faszination für das Restaurieren und nutzte zwischen seinen Fahrten jede freie Minute, um den Restauratoren bei ihrer Arbeit zuzusehen. Irgendwann frage er, ob er denn mitarbeiten könnte. Man bot ihm für die Dauer des Projektes ein Praktikum an. Er kündigte spontan seinen Job, fuhr nebenbei weiterhin Taxi und arbeitete unentgeltlich an den Restaurierungen mit. Die Projektleiter waren von so viel Engagement und Begeisterung beeindruckt und eröffneten dem jungen Mann nach einigen Monaten, dass sie für ihn einen Ausbildungsplatz in Deutschland organisiert hätten. „Ich hatte vorher nie daran gedacht, wegzugehen!“, erinnert sich Abdulwahid. Aber er nahm das Angebot an, zog nach Göttingen, lernte Deutsch und in drei Jahren den Beruf des Restaurators.
Nach dem Abschluss seiner Lehre und dem Praktikum in der Universitätsbibliothek kehrte Abdulwahid in den Jemen zurück. „Dort gab es noch viel zu tun für mich“, begründet er seine damalige Entscheidung. Aber das Schicksal lenkte seinen Weg erneut in eine andere Richtung. Es war wieder purer Zufall, dass er bei einer Touristenführung, die er „um die Sprache nicht zu verlernen“ gelegentlich auf Deutsch anbot, seine spätere Frau kennenlernte – eine Südtirolerin. So verschlug es Abdulwahid schließlich nach Girlan, wo er, nachdem er die italienische Staatsprüfung abgelegt hatte, eine Werkstatt für Buchrestaurierungen eröffnete und eine Familie gründete.
Das Gefühl, irgendwo neu zu sein, begleitet Abdulwahid schon sein ganzes Leben lang. Als Sohn eines jemenitischen Vaters und einer äthiopischen Mutter zog er schon in früher Jugend mit seiner Familie von Addis Abeba nach Sanaa in den Jemen. In Deutschland musste er sich schnell einleben und eine neue Sprache lernen. Und schließlich begann er in Südtirol noch einmal ganz von vorne. In Girlan fühlte er sich schnell daheim: knüpfte Bekanntschaften, als er mit der Tochter auf den Spielplatz ging und trat dem Gesangsverein bei. Gelegentlich kommen befreundete Weinbauern vorbei, um ihm ein wenig über die Schultern zu schauen. „Natürlich gab und gibt es Höhen und Tiefen und es war nicht immer leicht, aber das ist das Leben!“, sagt Abdulwahid. Manchmal fragt er sich, was passiert wäre, wenn damals in Sanaa ein Taxi vor ihm gefahren wäre und er diese Männer nicht getroffen hätte: „Es sind oft Sekunden, die über unser Leben entscheiden – alles ist Schicksal!“, sagt er noch, bevor er sich wieder seinem Leuchttisch und dem alten Buch aus der Klosterbibliothek zuwendet.
Fotos: Georg Hofer
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Ein sehr schöner Bericht.
Ein sehr schöner Bericht. Aber nicht von mir, sondern von LISA Frei. Wie er über mein Profil veröffentlicht werden konnte ist mir ein Rätsel, das ich von salto gern gelüftet bekäme...