Society | Vinschgau

Wer weiß, wie's geht?

Saatgut vermehren, Handweben oder Pfluagziachn – nicht alles muss neu erfunden werden. Die Wanderausstellung „Hüter der Vielfalt“ zeigt Kulturerbe einer Grenzregion.
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Foto: Dominik Täuber
Irmgard aus Galsaun bei Kastelbell-Tschars fertigt Körbe, Taschen und sogar ganze Schränke aus Weidenbast. Damit wurden bereits vor 10.000 Jahren Seile und Fischernetze hergestellt. Josin aus Susch (Unterengadin) ist – wie schon sein Großvater und Vater – Sgraffito-Künstler. Im 16. Jahrhundert brachten Renaissance-Baumeister diese besondere Ornament-Technik nach Graubünden. Die „Tessanda“ in Santa Maria, Val Müstair, ist eine der drei letzten Handwebereien in der Schweiz. Dort arbeiten Handweberinnen auf teils über 100-jährigen Webstühlen. Das sind nur drei von 25 „Hütern der Vielfalt“ – Persönlichkeiten, deren Tätigkeit und Lebenseinstellung in der gleichnamigen Wanderausstellung vom 15. Juli bis 14. Oktober erzählt werden. Sie wird in Karthaus (Schnals), Laas, Glurns und Valchava (Schweiz) gezeigt.
 
 

Widerstandsfähigkeit stärken

 
Ziel der Ausstellung ist es, den großen Reichtum des Kulturerbes dieser Region und die dahinterstehenden Menschen kennenzulernen. Die Ausstellung wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts konzipiert, in dem sich Forscherinnen von Eurac Research mit dem lebendigen Kulturerbe in der Grenzregion zwischen Italien und der Schweiz beschäftigen. Damit wollen sie das Bewusstsein für das lebendige Kulturerbe dieser Region schärfen, die Wertschätzung hierfür steigern und seine Widerstandsfähigkeit langfristig stärken.
Was manchen als altmodische Lebensart erscheinen mag, ist in meinen Augen moderner und fortschrittlicher denn je - Ricarda Schmidt
„Vor gut einem Jahr bin ich in den Vinschgau, genauer gesagt nach Eyrs, gezogen. Was ich hier vorgefunden habe, hat mich von Anfang an in den Bann gezogen. Viele Menschen hier sind stark in der Gemeinschaft verwurzelt, sie haben einen engen Bezug zur Natur und zu althergebrachtem Wissen“, erzählt Projektleiterin Ricarda Schmidt, Archäologin und Expertin für kulturelles Erbe am Institut für Regionalentwicklung von Eurac Research. „Die Persönlichkeiten, die ich während unserer Forschungsarbeit kennenlernen durfte, verknüpfen mit ihrem Tun weitaus mehr Werte als lediglich den monetären. Was manchen als altmodische Lebensart erscheinen mag, ist in meinen Augen moderner und fortschrittlicher denn je.“
In Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen und des Klimawandels ist es auch politisch entscheidend, hinter dem lebendigen Kulturerbe in Südtirol zu stehen - Thomas Streifeneder
Für ihre Forschung begab sich Schmidt auf die Suche nach Persönlichkeiten, die sich für das lebendige Kulturerbe einsetzen. Sie führte zahlreiche Gespräche, die sie dokumentierte, auswertete und nun in Form der Ausstellung aufbereitet hat. In der Ausstellung werden Tafeln mit Informationen zum untersuchten lebendigen Kulturerbe vorgestellt.
 
 
Ein paar Beispiele: das Stilzer Pfluagziachn, die bäuerliche Saatgutvermehrung, der Streuobstanbau, die Zucht und Ausbildung von Hütehunden. Die Tafeln werden begleitet von Zitaten und Bildern der Menschen, die hinter diesen Tätigkeiten stehen. „Wir stellen in unserer Ausstellung 25 Persönlichkeiten und 19 Beispiele für Kulturerbe in der Region vor. Uns ist aber durchaus bewusst, dass es in dieser Grenzregion viele andere Menschen gibt, die sich um das lebendige Kulturerbe verdient machen. Und so hat die Ausstellung auch zum Ziel, weitere ‚Hüter der Vielfalt‘ aufzuspüren. Lebendiges Kulturerbe zu identifizieren, das ist in erster Linie die Aufgabe der Gemeinschaften vor Ort – wir als externe Forscher:innen können lediglich Ideen vorschlagen und einen Dialog anregen“, so Schmidt.  
 

Prinzipien der Nachhaltigkeit

 
Nicht nur im Vinschgau, auch in anderen Teilen Südtirols werden immer häufiger alte Traditionen und Handwerke neu belebt oder Bewusstsein hierfür geschaffen: So beispielsweise im Pustertal, wo etwa der Saatgut-Tausch von seltenen und alten Landsorten thematisiert wird, die für das Tal charakteristisch sind.
„All diese Menschen leben nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit, die hierzulande viel stärker gelebt und umgesetzt werden sollten“, so Thomas Streifeneder, Leiter das Institut für Regionalentwicklung von Eurac Research. „In Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen und des Klimawandels ist es auch politisch entscheidend, hinter dem lebendigen Kulturerbe in Südtirol zu stehen“.
Die Ausstellung wird im Rahmen des Interreg Italien-Schweiz-Projekts „Living Intangible Cultural Heritage“ unter der Leitung von Eurac Research realisiert. Projektpartner sind die Region Lombardei, die Region Aostatal und Polo Poschiavo.