Culture | Salto Afternoon
Tanzen um den Absturz
Foto: Andrea Macchia
Das Hinterfragen von Grenzziehungen war schon am späten Nachmittag, ab 17.30 bei Salewa Thema: Welches sind die Schnittmengen zwischen Tanz und Klettern? Ist Tanzen Sport, Kunst oder beides? Geht es beim Klettern auch um Gesten und Schönheit, oder zählt in der Wand allein Effizienz. Der Philosoph Andrea Regazzoni moderierte dazu eine Konferenz mit dem Eröffnungs-Choreografen Rachid Ouramdane, dem Highliner und Slackline-Rekordhalter über 2200 Meter Nathan Paulin, der Performerin und Choreografin Francesca Pennini, Regisseur und Bergsteiger Simon Messner sowie der Kletterin Judith Rubner.
Es fand sich gemeinsames Terrain in Flow-Zuständen der vollkommenen Konzentration, dem Auseinandersetzen mit der Möglichkeit des Scheiterns, sowie der Visualisierung von Bewegungen und der Notwendigkeit für Bewegung für das persönliche Glück, um einige Überschneidungen zu nennen. Der Ablauf des Talks war dabei recht linear, mit einer Rückkehr am Ende zu Messner und Rubner, die in ihren Statements zuvor weniger Raum eingenommen hatten, auch da für Ouramdanes und Paulins Ausführungen auf Englisch eine Dolmetscherin für das Publikum zwischengeschaltet wurde. Regazzoni, der gerne zu Platon, sowie Fragen der körperlichen Haltung und Etymologie einzelner Worte zurückkehrte, auch wenn diese, im Fall der umilità ganz und gar aus dem Dolmetschen hervorgingen, sprach wohl am längsten.
Extreme Körper
„Corps extrêmes“ ließ im Stadttheater auf Worte Taten folgen, jedoch nicht unmittelbar: Die weiße Kletterwand, welche den Bühnenraum nach hinten abschloss, diente als Projektionsfläche für ein Video (Jean-Camille Goimard). Nathan Paulin, auf der Highline sinnierte auf Französisch über seine Tätigkeit, von Musik begleitet und mit durch Kamerafahrten induziertem Gefühl für Tiefe und Fallhöhe. Dabei musste man sich, der Architektur des Stadttheaters geschuldet, für Text oder Bild entscheiden, wenn die französischen Stimmen aus dem Off kamen. Die Übertitel, also die Untertitel an der Decke lassen sich nicht im peripheren Sehen lesen.
Auf die Leinwand angedeutete Tiefe folgt der Auftritt Paulins im Raum darüber, auf einer kurzen Line die das vordere rechte Bühneneck mit dem hinteren linken verbindet. Diesen Raum, den der Athlet in gedrosseltem Tempo über seiner Projektion durchmisst, nutzt der Choreograph Rachid Ouramdane um dem Publikum die Gelegenheit einer Bewegungsstudie zu geben. Paulins Langsamkeit ist nicht funktional, aber anschaulich, zeigt wie er aufsteht, verharrt und seine Schritte setzt.
Aus der meditativen Langsamkeit schälen sich, nach einem Wechsel im Licht (Stéphane Graillot) neun „performative Wesen“ (Joël Azou, Airelle Caen, Ann Raber Cocheril, Löric Fouchereau, Peter Freeman, Xavier Mermod, Patricia Minder, Seppe Van Looveren, Leo Ward), die von oben herab die Kletterwand erkunden.
Am Boden angekommen ist das Bewegungsvokabular ein ganz anderes, das sich in Gesten am Tanz und an der Natur - Schwarmverhalten - bedient, im Kern aber akrobatisch ist: Würfe, Turmbau und das Wechselseitige Tragen des Körpergewichts eines anderen, auch in der Kletterwand generieren ohne Absicherung eine prekäre Spannung, die den Sturz mitdenkt. Man tut sein Mögliches ihn zu vermeiden, aber die Gefahr bleibt reell und verbindet eine durch-koordinierte Performance am Rande des Tanzes mit den Themen der Vertikalität und Fallhöhe.
Auf seltsame Art überträgt sich die Performance als Anspannung aufs Publikum, kein in einem vollen Saal erwartetes Flüstern ist zu hören. Das Geschehen hat dabei, anders als der Kletterer in der Wand, der nach dem nächsten Griff und Stand blickt, sehr wohl ein Auge für Schönheit; Etwa als eine der Performerinnen an Paulins Hand, durch die Line gehalten frei schwebt und mit leichter Drehung in ihre Körperspannung an die Figur einer Ballerina in einer Spieluhr denken lässt.
Thematisiert wird der Sturz auch klanglich, der mit Beschleunigung des Tempos und der Musik (Jean-Baptiste Julien) sofort als Möglichkeit spürbar ist. Mit durch Hall gestützten, warmen Gitarrennöten vermittelt man Entspannung und Fokus, mit elektronisch, leicht dissonanten Tönen hingen Spannung und tut was man kann, ein - gesichertes - Abrutschen im Video oder die Nacherzählung eines Unfalls als Audio aus dem Off spannender zu gestalten, aber sie sind doch nicht real.
Das Stück endet, wie es im Hauptteil begonnen hat: Mit einem Abstieg aus der Wand, diesmal als getragene Rückwärtsbewegung, bei der die Körper der Kletterer vom höchsten zum tiefsten weitergereicht werden. Sicher und Wohlbehalten aus der Höhe, in welcher wir nur Gast sein dürfen zurückgekehrt, holt man auch Paulin zu Boden, zurück auf Null. Dann kommt, mit dem Applaus, das Abfallen der Spannung.
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