Politics | Sommerlektüre

Alle Macht dem Volke?

Warum Argumente gegen Volksentscheide meistens falsch sind: Paul Tiefenbach geht auf die häufigsten Einwände gegen direkte Demokratie ein.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Mit realistischem Blick und unprätentiöser Sprache analysiert Paul Tiefenbach in seinem 2013 bei VSA erschienen Buch beispielsweise, ob Volksentscheide in den USA von finanzstarken Gruppen beliebig gesteuert werden können. Direkte Demokratie wie in Kalifornien: ein Spielball des power of money? Dann befasst er sich mit dem für Deutschland und Italien typischen „Finanztabu“ bei Volksentscheiden. Sollen Bürger auch per Volksentscheid Steuern senken, Kredite aufnehmen, Ausgaben beschließen können? Wer ist für die übermäßige öffentliche Verschuldung verantwortlich?

Ein zentraler Einwand gegen direkte Demokratie unterstellt, dass die Mehrheitsentscheide systematisch Minderheitenrechte gefährden würden. Von den Schweizer Minarett- und Ausschaffungsinitiativen wird abgeleitet, dass das Volk grundsätzlich gegen Minderheiten wie Schwule, Ausländer, Muslime stimmen würde. Tiefenbachs Argumentation ist differenziert und gut dokumentiert. Er verschweigt nicht Bereiche, wo die rein parlamentarische Demokratie ausnahmsweise überlegen ist.

Wird mit direkter Demokratie die Todesstrafe wieder eingeführt? Soll das Volk immer ein Veto einlegen können? Überspitzt: sollen die Passagiere darüber abstimmen, ob ihr Flugzeug notlanden soll? Immer wieder geht es in der Diskussion um diese Frage: Ist „das Volk“ überhaupt kompetent genug, über dies und das abzustimmen, wobei Politiker und Journalisten meistens sich selbst für alles kompetent halten. Man könne doch über wichtige Fragen nicht uninformierte Bürger abstimmen lassen. Das gleiche Argument, so Tiefenbach, wurde schon gegen das Wahlrecht, später gegen das Frauenwahlrecht vorgebracht. Und doch schwingt es immer wieder mit, gerade jetzt beim Bürgerentscheid in Mals wird von den Gegnern unterstellt, die Bevölkerung könne gar nicht beurteilen, welche Pestizide ihr gut oder weniger gut tun.

Wird durch direkte Demokratie der Populismus befördert, sind Volksentscheide anfälliger für Demagogie als Wahlen?

Es ist Tiefenbach hoch anzurechnen, dass er sich mit solchen Einwänden auseinandersetzt, die nicht nur in Italien immer wieder von solchen Politikern ins Feld geführt werden, die Demagogie schon immer als probates Mittel betrachtet haben. Umso mehr betont der Autor die Bedeutung der breiten, öffentlichen Debatten, die echten Volksentscheiden vorausgehen muss. Tiefenbach erklärt aber auch, auf welche Weise Volksentscheide Politik- und Parteienverdrossenheit mindern können, wie sie die politische Tagesordnung mit neuen Vorschlägen und Ideen bereichern. Erfahrungen aus Ländern, in denen seit mehr als hundert Jahren regelmäßig Volksentscheide stattfinden, veranschaulichen die Argumentation. Der Autor  lässt Probleme, Risiken und frustrierende Seiten der direkten Demokratie nicht unter den Tisch fallen - das macht den Band für Skeptiker wie für Befürworter lesenswert. Eine Übersetzung ins Italienische wäre wünschenswert.

Paul Tiefenbach, Alle Macht dem Volke? Warum Argumente gegen Volksentscheide meistens falsch sind, VSA Verlag, 2014, ISBN 978-3-89965-560-5

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Sabina Frei Mon, 08/18/2014 - 10:44

Direkte Demokratie ist ein Baustein demokratischer Prozesse, bei denen sowohl repräsentative, als auch deliberative Verfahren nicht fehlen sollten.
Wenn Thomas Benedikter anführt, dass Tiefenbach „(…) die Bedeutung der breiten, öffentlichen Debatte, die echten Volksentscheiden vorausgehen muss.“ betont, dann kann ich dem nur zustimmen.
Deliberation, also Beratschlagung und Überlegung auf der Grundlage von Informationen, die durch den deliberativen Prozess erweitert und vertieft werden, ist in demokratischen Verfahren wesentlich. Und auch nicht wirklich neu. In Parlamenten passiert – mehr oder weniger – genau das.
Das neue an der Sache wäre (oder ist?), die Einbeziehung der Menschen, die mittelbar oder unmittelbar von einer Fragestellung betroffen sind, am deliberativen Prozess. Werden dabei auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnittene Verfahren angewandt, kann es gelingen, Zugangshürden nach unten zu schrauben und breitere Partizipation zu ermöglichen. Ein gern zitiertes Beispiel hierfür sind partizipative Prozesse für die Gestaltung von Spielplätzen. Dabei geht es nicht (vordergründig oder ausschließlich) darum, dass Kinder darüber abstimmen, ob sie die Känguruwippe oder die Maikäferschaukel auf ihrem Spielplatz haben wollen. Unter anderem auch deshalb nicht, weil sie nicht die einzigen Betroffenen sind, wenn es um einen Spielplatz geht. Kinder, Jugendliche, Eltern, AnrainerInnen, Gemeindeverwaltung…sie alle haben jeweils eigene Vorstellungen davon, was ein Spielplatz ist und was darauf zu geschehen hat. Und sie alle sollen in partizipativen Prozessen Gehör finden und gemeinsam aushandeln können, wie – in diesem Falle der Spielplatz – auszusehen hat. Dabei geht es natürlich auch um Macht- und Statusunterschiede, um unterschiedliche Ausdrucksformen, denen Rechnung getragen werden muss. Der Gewinn solcher Prozesse liegt darin, dass Menschen nicht einfach zwischen unterschiedlichen Optionen gewählt haben (direkte Demokratie) oder andere beauftragt haben, dies für sie zu erledigen (repräsentative Demokratie), sondern, dass im diskursiven Verfahren unterschiedliche Optionen entwickelt wurden, die potentiell ein höheres Maß an Identifikation und Akzeptanz erzielen. Das schließt grundsätzlich weder abschließende direktdemokratische Abstimmungen noch das Delegieren von Aufgaben an politische RepräsentantInnen aus. Beides findet allerdings durch diese – wie ich finde notwendige - Erweiterung des demokratischen Spektrums auf einer konsistenteren Basis statt.

Mon, 08/18/2014 - 10:44 Permalink
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Thomas Benedikter Tue, 08/19/2014 - 17:56

Ich stimme Sabina Frei völlig zu: deliberative, also diskursive Partizipation hat eine spezielle Funktion und Berechtigung. Vor allem dann, wenn im öffentlichen Raum Lösungen, Sichtweisen, Wertungen erst Mal ausdiskutiert werden müssen. Auch dann, wenn nicht die ganze Bevölkerung, sondern direkt Betroffene Gehör finden sollen. Da kann der nicht-entscheidende Charakter der deliberativen Verfahren von Vorteil sein, oder wie Luigi Bobbio es ausdrückt: "...la mancanza di potere decisionale costituisce al contrario un'importantissima risorsa. Consente un confronto più aperto e vitale; libera la discussione dall'impaccio della formalità. È vero, naturalmente, che alla fine il proponente (der Politiker, TB) potrà scegliere in piena autonomia quali proposte accogliere e come, ma - dopo un confronto ricco, teso e articolato - non avrà particolare interesse a trascurare le ragioni portate avanti da un territorio su cui dovrà lavorare negli anni successivi." (in: Il dibattito pubblico sulle grandi opere. Il caso dell'autostrada di Genova, in Rivista Italiana di Politiche pubbliche, n.1, 2010, S.140).
Allerdings ist es in unserer Gesellschaft so, dass nur Minderheiten sich aus ganz übergeordneten Motiven heraus engagieren, Mehrheiten sich eher von politischen Prozessen abseits halten. Die Abstimmungsrechte bringen eine andere Motivation hinein: es geht um eine Entscheidung, alle sind aufgerufen, selbst zu entscheiden. Doch Sabin ahat recht: deliberative und direkte Demokratie ergänzen sich.

Tue, 08/19/2014 - 17:56 Permalink