Schreiduelle, obszöne Gesten, hysterische Auftritte, totale Obstruktion, Ausschlüsse: Italiens Senatoren zeigten sich bei der Marathondebatte über die Verfassungsreform einmal mehr von ihrer übelsten Seite. Der langjährige Lega-Minister Roberto Calderoli versuchte, die Verfassungsreform mit einer unvorstellbaren Flut von 85 Millionen Abänderungsanträgen zu blockieren.
All das vermochte Premier Matteo Renzi nicht zu irritieren: "La riforma si farà". Als Gegenfigur zu Renzis saloppen Auftritten profilierte sich Ministerin Maria Elena Boschi, die bis zu 10 Stunden täglich im Sitzungssaal ausharrte und mit der ihr üblichen Geduld und Höflichkeit das Gesetz verteidigte, das ihren Namen trägt: "Porta il mio nome, ma il padre della legge è Giorgio Napolitano."
Als der ehemalige Staatspräsident zum Abschluss der Debatte im Senat das Wort ergriff, verließen Forza Italia und Fünfsterne-Bewegung den
Sitzungssaal. Es war nur eine von unzähligen Protestaktionen, die einmal mehr bewiesen, wie kümmerlich es in Italien um die Kultur der politischen Auseinandersetzung bestellt ist. Lega, SEL, Forza Italia und M5S nahmen an Endabstimmung nicht teil.
Die Genehmigung der Verfassungsreform ist der wichtigste Erfolg in Renzis bisheriger politischer Laufbahn. Möglich machte ihn trotz der Wackelmehrheit das unaufhaltsame Bröckeln der politischen Mitte im Parlament.
Nicht nur der ehemalige Berlusconi-Intimus Denis Verdini und seine neue Fraktion zeigen sich bereit, Renzis Reformen zu unterstützen. Auch der Lega-Dissident Flavio Tosi sucht mit sieben Parlamentariers Ansprechpartner zur Überwindung der Isolierung. Bei Halbzeit der Legislatur hat eine Rekordzahl von 227 Senatoren und Abgeordneten Partei gewechselt - einige bis zu fünf Mal. Jeden Monat kommen zehn neue Überläufer dazu - ein üppiges Reservoir, in dem Renzi problemlos Unterstützer findet.
Dessen Erfolg im Senat ist freilich nur ein Etappensieg. Denn die Reform muss nun noch zweimal von der Kammer und voraussichtlich im Februar noch weiteres mal vom Senat abgesegnet werden - mit absoluter Mehrheit. Im Herbst kommenden Jahres haben dann beim fälligen Referendum die Wähler das Wort.
Die Verfassungsreform liegt seit Mai 2013 im Parlament. In Kraft treten kann sie bestenfalls in einem Jahr - dreieinhalb Jahre für die Genehmigung einer Reform, über die im italienischen Parlament 35 Jahre ohne konkretes Ergebnis diskutiert wurde.
Dass Forza Italia die Abstimmung über eine Reform boykottierte, der sie bereits zugestimmt hat, offenbart die immense Widersprüchlichkeit italienischer Politik. Dementsprechend kontrastreich ist die Palette der Urteile über diese Reform - sie recht von "una bellissima giornata" bis zum "funerale della repubblica." An apokalyptischen Übertreibungen fehlte es nicht.
Die SEL-Senatorin Loredana De Petris:" Questa riforma dissolve l'identitá della repubblica nata dalla resistenza." Roberto Calderoli: "Con questa riforma muore la nostra democrazia. Il regime e la censura sovietica sono già cominciati."
Fest steht: Das heftig umstrittene Reformwerk beseitigt das obsolete Zweikammernsystem und beschleunigt damit die Gesetzgebung. Mit fast 300 Tagen von der Einbringung bis zur Verabschiedung eines Gesetzes hält Italien den unbestrittenen Europarekord.
Nach seinem Sieg am "supermartedì" könnte sich Renzi zurücklehnen. Doch das widerspricht seinem Naturell. Die Wirtschaftsprognosen des Währungsfonds für Italien sind überraschend positiv, die Arbeitslosenrate sinkt erstmals seit drei Jahren, das Sozialprodukt wächst, in Wirtschaftskreisen herrscht optimistische Stimmung. Nach der Abschaffung von Tasi und Imu hat Renzi Unternehmern Steurerleichterungen versprochen, die in ihre Betriebe investieren. Und mit der Erhöhung der Obergrenze für Barzahlungen von 1000 auf 3000 Euro wird er nicht zuletzt bei Südtirols Hoteliers lebhafte Zustimmung finden.