Politics | Augenhöhe mit Putin

Quo vadis, Europa?

Der ehemalige Diplomat Reinhard Schäfers analysiert die Krisen-Schauplätze der EU in der Flüchtlings- und Integrationspolitik und warnt vor einer historischen Zäsur.
Note: This article was written in collaboration with the partner and does not necessarily reflect the opinion of the salto.bz editorial team.

Er arbeitete im diplomatischen Dienst in Moskau und Berlin, bei der EU in Brüssel und war Botschafter in Kiew, Paris und zuletzt Rom. Der Südtirol-Fan Reinhard Schäfers bricht eine Lanze für die Diplomatie in der größten Krise der EU und fordert: weniger Moral, mehr Kopf.

Reinhard Schäfers Berufsleben war von der Diplomatie geprägt. Mehr als 38 Jahre lang war der 65-jährige Jurist zwischen Deutschland und der Welt in Sachen politischer Beziehungspflege unterwegs. Als Botschafter vermittelte er ab 2006 in Kiew, dann in Paris und bis 2015 in Rom zwischen den Mächtigen in der Politik. Seit rund 15 Jahren urlaubt Schäfers in Südtirol. Im April 2015 wurde er durch die Vermittlung von Südtiroler Parlamentariern in den Verwaltungsrat der Messe Bozen gewählt.

Am 22. März wird Schäfers an der Freien Universität Bozen referieren. Sein Thema: „Quo vadis, Europa? Die Krise des europäischen Einigungsprozesses und die deutsche, italienische und Südtiroler Interessenslage“. Im Interview verrät er, mit welchem Rundumschlag die EU noch zu retten ist und wie es war, als er in der ehemaligen Sowjetunion einen gewissen Herrn Putin kennen lernte.

Herr Schäfers, nie gab die EU ein erbärmlicheres Bild ab als jetzt. Ist die europäische Diplomatie dabei, sich selbst abzuschaffen?
Reinhard Schäfers:  Also schieben wir es mal nicht auf die Diplomatie. Die Diplomatie führt ja nur aus. Wir müssen uns da an die Politik halten, um die geht es. Wir haben in der Tat einen Sturm über Europa, der durch das Rückfallen in das Nationalstaatliche ausgelöst wird. Dinge, von denen wir glaubten, dass sie nicht mehr passieren würden, geschehen. Die Diplomatie versucht zu reparieren, was zu reparieren ist. Das war auch beim Gipfel diese Woche der Fall (EU-Gipfel in Brüssel am 7. März, Anm. d. R.), wo die absoluten Spitzenvertreter verhandelten.

Ein EU-Gipfel jagt den nächsten. Zumeist kommt nichts heraus…
Das stimmt allerdings. Ich will da nichts schönreden. Ich kenne die Dramaturgie solcher Gipfel sehr gut, ich war ja fünfeinhalb Jahre in Brüssel. Krisen hat es seit Bestehen der EU immer gegeben, aber so schwierig war es sicher noch nie. Auch weil man die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise dazurechnen muss – politisch muss das kumuliert gesehen werden. Von daher war die Situation noch nie so ernst, es sind fragwürdige Entscheidungen getroffen und Verhalten geändert worden. Vorwürfe, Misstrauen und moralische Überlegenheitsgefühle sind aufgetaucht – insgesamt eine furchtbare Situation. Die Gefahr ist groß, dass wir das Europa, wie wir es kennen, verlieren.

Sind diplomatische Alleingänge wie die Balkan-Initiative von Österreich Ausdruck von Verzweiflung bzw. Resignation?
Österreich fühlt sich moralisch im Recht, und das ist ja genau das Schlimme an der Debatte im Moment. Jeder, der in der Flüchtlingsfrage im Moment irgendetwas sagt oder tut, fühlt sich im Recht. Dieses moralische Recht kann man niemandem verbieten, aber es führt zu einer ausweglosen Situation, weil man sich nicht einigen kann.

Wie entkommt Europa dieser Moralfalle?
Es braucht mehr rationalen Konsens auf allen Seiten. Man muss erkennen, dass das Gemeinsame auf dem Spiel steht. Ich plädiere dafür, dass das bewährte Konzept des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten wieder mehr forciert wird. Das heißt, eine Gruppe in der EU geht voran, andere ziehen nach – mit unterschiedlichen Ausmaßen. Die EU sollte heterogener werden. Nur so kann die EU gerettet werden.

Aber ist für solche weitreichende Prozesse nicht schon zu viel Porzellan zerschlagen worden?
Für übereinstimmende Lösungen ja. Jetzt braucht es Kompromisse. Es ist wichtig, dass man überhaupt miteinander spricht und im Gespräch bleibt. Einzelaktionen bringen nichts.

Stichwort Gespräche. Bei der Problemlösung setzt man stark auch auf die Türkei – mit all ihren Untiefen in Fragen der Menschenrechte und politischen Haltungen. Verbiegt sich die EU da nicht zu weit?
Das ist natürlich nicht einfach. Andererseits: Wir dürfen uns nicht in die alte Falle des Kalten Krieges begeben, wo es hieß: Moral versus Interessen. Da hat der Westen alles aus dem Osten schlichtweg verteufelt und umgekehrt. Jetzt müssten wir das doch eigentlich überwunden haben. Europa hat wertebasierte Interessen. Wir haben jetzt ein grundlegendes Interesse in einer fundamentalen Frage, die den Lebensnerv berührt. Natürlich muss man da mit allen reden, die potenziell mit Europa gemeinsam die Frage in den Griff bekommen können. Um es auf den Punkt zu bringen: In der Flüchtlingsfrage wahrt man Werte, wenn man das Interesse wahrnimmt.

Kann Europa die Folgen dieses Kompromisses, die Bilder vom Leid und Elend vor den Toren Europas, dann aber auch ertragen?
Das Elend in den Lagern gibt es doch schon. Durch das Sparverhalten in Europa und der Kürzung der Mittel des UN-Flüchtlingshilfswerkes hat sich die Katastrophe doch erst verschärft. Diese drastische Mittelkürzung war ein unentschuldbarer und schwerer Fehler. Die Hilfe vor Ort muss dringend wieder aufgestockt werden. Hier braucht es einen großen Einsatz, um das Leid zu lindern. Auch das ist Realpolitik.

Sie waren im diplomatischen Dienst in Russland. Welche Rolle spielt Putin in der Flüchtlingsfrage und insbesondere in Syrien?
Es gab Momente, da war ich – wie ich heute zu sagen pflege – mit Putin auf Augenhöhe. Ich habe ihn kennengelernt, als er wie ich „note-taker“, also Schriftführer, im Amt des damaligen St. Petersburger Bürgermeister war. Sein Land und er haben sich seit damals stark verändert, auch wenn im Kreml noch Reflexe da sind, die mich an die Zeit von früher erinnern lassen.

Was meinen Sie konkret?
Ich meine, dass im Kreml noch große Bestrebungen zu erkennen sind, respektiert und auf Augenhöhe mit den USA wahrgenommen zu werden. Man hat das zu lange ignoriert. Spätestens die Aussage Obamas, dass Russland nur mehr eine Regionalmacht sei, war zu viel. Das kann ein großrussisch und national denkender Politiker wie Putin nicht auf sich sitzen lassen. Dass hat tiefenpsychologisch einiges bewirkt, und das darf man nicht vergessen, wenn man mit Russland spricht. Und hier hat man Fehler gemacht in den letzten 15 Jahren. Aber natürlich ist das kein Freibrief für die aggressive Politik Russlands, etwa im Ukraine-Konflikt.

Aber wie spricht man mit Russland?
Diese Frage stellt sich erst später. Das viel Wichtigere ist doch: es muss gesprochen werden! Das gilt für Russland wie für die Türkei. Es kann nicht sein, dass man sagt: igitt, igitt, was macht denn der? Diese Schwelle muss man überwinden. Das Thema muss realpolitisch angepackt werden. Da gibt es keine Alternative.

Auch die Kommunikation zwischen Italien, Südtirol und Österreich war schon besser. Wie betrachten Sie das Szenario einer möglichen Grenzschließung am Brenner?
Eine Grenzschließung wäre für das Verhältnis zwischen Österreich und Italien und insbesondere zu Südtirol eine Katastrophe – vor allem ökonomisch. Die wirtschaftliche Lebensader nach Norden wäre durchschnitten, mit fatalen Folgen für den Handel und für den Tourismus. Wer nach Bayern schaut, weiß was dort los ist. Österreich wird hier zwar viel tun, um einen möglichen Gau in Südtirol zu vermeiden, doch der nationale Reflex ist stark. In diesem Sturm über Europa braucht es auch in einer Europa-Region viel, viel Arbeit und Geduld, diesen nationalen Geist wieder in die Flasche zurückzudrängen.

Interview: Hannes Peintner. Das Interview ist am 11. März in der Südtiroler Wirtschaftszeitung SWZ erschienen.

Reinhard Schäfers (*27. Mai 1950) ist emeritierter Botschafter der Bundesrepublik Deutschland und Verwaltungsratsmitglied der Messe Bozen. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und beherrscht neben Deutsch auch noch Englisch, Französisch, Italienisch und Russisch. Er studierte Rechtswissenschaften und absolvierte die Ausbildung zum höheren auswärtigen Dienst. Sein beruflicher Werdegang führte ihn nach verschiedenen Stationen in Osteuropa, Russland und Somalia schließlich als Botschafter u.a. zur EU, nach Kiew, Paris sowie zuletzt nach Rom, wo er sich im August 2015 in den Ruhestand verabschiedete.