Society | Interview

„Was möchte dieses Europa sein?“

Der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine zeigt nicht nur, dass Europa solidarisch sein kann, sondern auch rassistische Doppelstandards im Umgang mit Menschen.
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Foto: A. Langer

Berichte und Videos legen nahe, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe an der Ausreise aus der Ukraine gehindert wurden. Der deutsch-marokkanische Autor und Journalist Mohamed Amjahid ordnet die aktuellen Entwicklungen in der europäischen Migrationspolitik aus antirassistischer Perspektive ein.

Salto.bz: Wie beurteilst du die Diskriminierung von Black and People of Color (BPoC) an der ukrainischen Grenze, die aus ihrem Land flüchten wollen?

Mohamed Amjahid: Es ist wichtig zu betonen, dass alle Flüchtenden willkommen sein müssen. Umso schlimmer ist die Tatsache, dass nicht-weiße Flüchtende wieder mal vom europäischen Grenzregime an der Flucht gehindert und diskriminiert wurden. Wenn Menschen vor einer Gefahr weglaufen müssen, dann darf weder nach Haut- noch nach Passfarbe unterschieden werden, wer sterben soll und wer sich in Sicherheit bringen darf. Das haben wir in den vergangenen Tagen an den Außengrenzen der EU anders erlebt: Nigerianische, indische oder marokkanische Staatsbürger:innen, die sich zum Anfang des Angriffskriegs in der Ukraine befanden, wurden daran gehindert, sich vor den russischen Bomben in Sicherheit zu bringen. Das ist menschenverachtend und wirft wieder mal ein grelles Licht auf das hässliche Gesicht Europas, das in schutzbedürftige und zu vernachlässigende Flüchtende unterscheidet.

 

Wenn Menschen vor einer Gefahr weglaufen müssen, dann darf weder nach Haut- noch nach Passfarbe unterschieden werden, wer sterben soll und wer sich in Sicherheit bringen darf.

 

Wie zeigt sich struktureller Rassismus im Umgang mit Geflüchteten im Vergleich der Jahre 2015 und 2022 in Europa?

Neben der Tatsache, dass in Talkshows, von Politikern formuliert und in Sozialen Medien ukrainische Flüchtende nun als „gut" bezeichnet werden und das im Kontrast zu den Flüchtenden und Geflüchteten von „damals“, also aus dem Jahr 2015, gibt es ganz konkrete Maßnahmen, die den Doppelstandard der politischen Entscheider:innen illustrieren: Die EU hat innerhalb weniger Stunden eine Richtlinie aktiviert, die Flüchtenden aus der Ukraine weitestgehende Rechte einräumt. Sie dürfen sich in der EU frei bewegen, arbeiten, ihre Kinder zur Schule schicken, bekommen finanzielle Unterstützung. Das ist richtig. Bitter ist, dass die Flüchtenden aus dem Jahr 2015 nicht eine solche Behandlung bekommen haben, obwohl sie ebenfalls in einer Notsituation waren. Im Gegenteil: Damals wurde Frontex (Grenzschutzagentur der EU, Anmerkung d. R.) gestärkt, ein Pakt mit der türkischen Regierung geschlossen und rassistische Kampagnen gestartet. Es ist beschämend.

 

 

Auf jeden Fall braucht Europa eine ehrliche, selbstkritische und realitätsbezogene Wertedebatte.

 

Was könnte die EU aus der großen Solidarität für ukrainische Geflüchtete für die Zukunft lernen?

In erster Linie: Sich auf Fluchtbewegungen vorbereiten. In den vergangenen Jahren, auch nach 2015, haben die Entscheider:innen stets gehofft, dass die EU-Außengrenzen schon für Abschottung sorgen, die nötige Infrastruktur, um Flüchtende menschenwürdig aufzunehmen wurde sträflich vernachlässigt. Das merken wir auch jetzt, wenige Tage nachdem Ukrainer:innen ankommen und staatliche Stellen vor allem in Deutschland kollabieren und auf das freiwillige Engagement der Zivilgesellschaft zurückgreifen müssen. Auf jeden Fall braucht Europa eine ehrliche, selbstkritische und realitätsbezogene Wertedebatte: Was möchte dieses Europa sein? Ein Kontinent, der nur sich selbst helfen möchte oder die vermeintliche Wertegemeinschaft, die bisher nur auf Papier existiert und in der Realität Menschen aufgrund der Herkunft und der Hautfarbe aktiv diskriminiert und an den Außengrenzen krepieren lässt?

 

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Salto User
Sepp.Bacher Thu, 03/17/2022 - 11:28

In diesem Zusammenhang verweise ich auf einen Kommentar in der FF/ No. 10: "Ein Grund zur Hoffnung" von Ulrich Ladurner. https://www.ff-bz.com/politik-wirtschaft/politik/2022-10/ein-grund-zur-…
Darin lädt Ladurner ein, die ganze Angelegenheit zu differenzieren: Flüchtling oder Migrant; Europäer und Christ oder von einem anderen Kontinent und möglicherweise Moslem oder mit dunkler Hautfarbe. In diesem Zusammenhang warnt er vor einer zu schnellen Rassismus-Beschuldigung. Wirklich lesenswert! Lädt zum reflektieren ein.

Thu, 03/17/2022 - 11:28 Permalink