„Selbstzufriedenheit zerschmettert“
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SALTO: Frau Deitelhoff, sind Sie ein optimistischer Mensch? Und wenn ja, was bedeutet Optimismus für Sie?
Nicole Deitelhoff: (lacht) Ja, ich würde mich als optimistischen Menschen bezeichnen. Optimismus heißt für mich, dass ich immer versuche, in aktuellen Konfliktlagen die widersprüchlichen Dinge zu sehen. Merkmale und Entwicklungen können auch auf eine andere Zukunft hindeuten. Ich sehe also in der Krise nicht nur die Krise, sondern auch Momente und Motive, die eher auf eine erfolgreiche Krisenbewältigung, vielleicht sogar auf Innovation in der Krise, hinweisen.
Kriege und Naturkatastrophen bedrohen Demokratien weltweit. Was müssen politische Entscheidungsträgerinnen und -träger jetzt tun?
Sie müssten vor allen Dingen versuchen, diese Krisen gemeinsam zu bewältigen und nicht in diesen alten Fluchtmechanismus hineingeraten, wo versucht wird auf dem Rücken der Anderen nationale Lösungen zu finden. Das ist das klassische Merkmal ganz vieler historischer, transnationaler Krisen, wo Staaten probiert haben, sich abzuschotten und damit diese Krisen aber noch befeuert haben, wie beispielsweise in der großen Wirtschaftskrise der 1920er Jahre.
„Es müssen neue Partnerschaften initiiert werden, die den globalen Süden endlich auch auf Augenhöhe wahrnehmen und ernst nehmen.“
Welche Fehler hat der Westen nach dem Ende des Kalten Kriegs im Umgang mit Russland gemacht?
Das ist eine Frage, deren Beantwortung einen ganzen Abend füllen würde. Um den Kalten Krieg zu beenden, wurden gemeinsame Pläne gemacht, die aber nicht umgesetzt wurden. Unter anderem ging es einen gemeinsamen europäischen Sicherheitsraum, den Russland und die westlichen Staaten gemeinsam errichten und unterhalten wollten. Diesen Raum hat man zwar zunächst noch formal errichtet, aber seine Ausgestaltung ist dann ziemlich schnell eingeschlafen. Russland war innenpolitisch mit dem schmerzhaften Übergang von der Sowjetunion zur Russischen Föderation beschäftig und die westlichen Länder haben sich vor allem auf die Neuausrichtung der NATO konzentriert und die Integration der EU vorangetrieben.
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Was hätten westliche Länder anders machen können?
Man wollte lange nicht sehen, dass sich die politische Richtung in Russland drehte. Kleinere Krisen und Probleme wurden ignoriert oder mit kleinen Lösungen abgespeist, die ersten Konflikte zwischen Russland und der NATO wurden eher kleingeredet. Anfang der 2010er Jahre war man dann an einem Punkt angelangt, wo fast alle Kooperationsbeziehungen mit Russland, zumindest in Sicherheitsfragen, nicht mehr funktioniert haben. Man hat diese Entwicklung damals aber nicht als eine sich kontinuierlich verschlechternder Beziehung wahrgenommen und daher den Zeitpunkt verpasst, die Sicherheitsbeziehungen zu Russland komplett neu zu bewerten und aufzusetzen.
Was kann man sich unter einem gemeinsamen europäischen Sicherheitsraum denn vorstellen? Wohl nicht, dass Russland der NATO beitritt oder?
Diese Idee wurde zwar diskutiert, aber dann sehr schnell verworfen. Man hätte sicherlich mehr in die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anmerkung d. R.) und in den Europarat investieren und dort den Schwerpunkt der Sicherheitspolitik legen müssen und nicht nur alleine in die NATO investieren.
„27 Mitgliedsstaaten mit teils sehr unterschiedlicher Geschichte und militärischer Kultur bewegen sich aufeinander zu.“
Wie wird sich der Konflikt in der Ukraine in Zukunft entwickeln?
Momentan ist die Lage für die Ukraine ziemlich schwierig. Es geht vor allem darum, die Frontlinien überhaupt zu halten. Es gab bereits Durchbrüche der russischen Streitkräfte, die sind zwar überschaubar, aber die Lage ist wirklich schwierig. Wenn die USA und die europäischen Staaten tatsächlich ihre Unterstützung für die Ukraine verstärken können, dann wird die Ukraine vermutlich die Linie halten können, aber nicht notwendigerweise gewinnen. Wir werden wohl in jedem Fall auch in den nächsten Jahren dort Krieg haben. Die Lage an der ukrainischen Grenze wird möglicherweise sogar für die nächsten Jahrzehnte instabil bleiben. Dass wir in den nächsten Monaten einen Frieden erleben werden, ist dagegen ziemlich unwahrscheinlich. Für die Ukraine geht es gerade um das Überleben als Staat und Russland hofft, auf Zeit spielen zu können.
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Wie ist die Stimmung derzeit innerhalb der EU-Länder bezüglich der Ukraine?
Nach wie vor ist die große Mehrheit der EU-Länder klar dafür, die Ukraine militärisch, politisch und finanziell weiter zu unterstützen. Man will nicht zulassen, dass Russland die Ukraine von der Landkarte tilgt. Gleichzeitig sind viele europäische Staaten mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, mit Krisen, von Pandemienachwirkungen bis hin zu den indirekten und direkten Kriegsfolgen, welche die öffentlichen Haushalte unter Druck setzen. Es stehen vielerorts Wahlen an und man hat Sorge, dass die Unterstützung für die Ukraine den rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien Stimmen zutreiben könnte. Das macht es sehr schwierig, Entscheidungen für eine stärkere Unterstützung der Ukraine zu treffen.
Gibt es innerhalb der EU unterschiedliche Bewertungen des Konflikts?
Südeuropäische Länder wie Spanien, Italien oder Portugal fühlen sich nicht so direkt von Russland bedroht wie es Länder in Zentral-, Mitteleuropa oder am Baltikum tun. Diese Länder haben ganz andere Erfahrungen mit dem Nachbarn direkt vor der Haustür gemacht.
Welche Rolle spielt der Ukraine-Konflikt für die EU-Parlamentswahl im Juni?
Bei den Wahlen des EU-Parlaments werden vermutlich andere Themen im Fokus stehen, da geht es vor allen Dingen um soziale Sicherheit und Klimapolitik, wofür sich viele junge Wählende interessieren. Der Ukraine-Krieg wird mitschwingen, aber ich glaube, er wird nicht das zentrale mobilisierende Thema sein.
„Zu sagen, China macht doch auch nichts Gutes, ist relativ wenig hilfreich.“
Sie sagten zu Beginn, dass in jeder Krise auch Chancen liegen. Welche wären das in der aktuellen Situation?
Der Ukraine-Krieg hat die europäische Sicherheitsordnung in Trümmer gelegt. Es ist deshalb der Auftrag, eine neue europäische Sicherheitsstruktur zu schaffen. Das vollzieht sich gerade vor unseren Augen, auch wenn wir das vielleicht nicht wahrnehmen. Die Europäische Union entwickelt sich zu einer Verteidigungsunion. Man ist bereit, alte Zöpfe abzuschneiden, etwa was gemeinsame Beschaffung und gemeinsames Training betrifft. Es sollen Akademien geschaffen werden, die gemeinsame europäische Standards voranbringen. Das ist tatsächlich eine Innovation, dass Europa in sensiblen politischen Bereichen wie der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zusammenrückt. Uns erscheint das immer quälend langsam, aber man muss sich einfach klar machen: 27 Mitgliedsstaaten mit teils sehr unterschiedlicher Geschichte und militärischer Kultur bewegen sich aufeinander zu. Das ist schwierig, aber es passiert.
Und auf der internationalen Ebene?
Die Selbstzufriedenheit, die viele westliche, liberale Staaten in den letzten zehn bis 20 Jahren an den Tag gelegt haben, ist zerschmettert. Sie haben geglaubt, nur weil sie sich Demokratie und Menschenrechte auf die Fahnen schreiben, würden alle anderen ihnen folgen. Es wird immer deutlicher, dass es gestaltungswillige und fähige Staaten außerhalb des sogenannten Westens gibt, die Mitsprache einfordern und in Teilen eine andere Ordnung wollen. Die westlichen Länder werden genötigt, Vorschläge zu machen, auf den globalen Süden zuzugehen und Angebote zu machen, wie man es anders anstellen könnte. Es müssen neue Partnerschaften initiiert werden, die den globalen Süden endlich auch auf Augenhöhe wahrnehmen und ernst nehmen.
China wird hier vorgeworfen, nun selbst Afrika auszubeuten.
Dieser Vorwurf ist sicherlich nicht falsch. Die Seidenstraße-Initiative Chinas setzt über große Infrastrukturprojekte und Kreditvergaben darauf, sich in vielen Teilen der Welt strategische Brückenköpfe zu bauen und dadurch die Zustimmung der eigenen Ideen in diesen Ländern zu erhöhen. Das machen sie, das funktioniert auch. Aber das heißt nicht, dass wir uns da raushalten können, nur weil China eine Autokratie ist, so funktioniert es eben nicht. Viele Länder des globalen Südens wären durchaus für alternative Vorschläge bereit, aber die müssen eben auch kommen. Man muss ernsthaft darüber nachdenken, was diese Länder eigentlich wollen, worum es da geht, wie man sie wieder für das Projekt einer liberalen, internationalen Ordnung gewinnen kann und wie man diese umgestalten müsste. Zu sagen, China macht doch auch nichts Gutes, ist relativ wenig hilfreich. Es geht jetzt darum zu sagen, was man selbst denn Gutes tun könnte.
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Über die Person
Nicole Deitelhoff ist Professorin für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktorin des PRIF-Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung. Sie forscht unter anderem zu Formen von Opposition und Widerstand sowie zu Demokratie und Zusammenhalt. Beim 23. Anlegersymposium des Raiffeisen InvestmentClubs am 16. Mai um 19 Uhr im Kurhaus von Meran spricht sie über die derzeitigen geopolitischen Verwerfungen und die Zukunft der liberalen Weltordnung.
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