Society | Jugend

Endlich wieder…einsam

Man spricht gerade häufig von „neuer Einsamkeit“, aber da ist nicht wirklich etwas Neues dabei.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Neue Einsamkeit?
Foto: mikoto.raw (pexels.com)

Man spricht gerade häufig von „neuer Einsamkeit“, aber da ist nicht wirklich etwas Neues dabei – dabei, dass es vielen Jugendlichen aktuell nicht besonders gut zu gehen scheint.

Dass es uns auffällt, weil wir ehemals Jugendlichen gerade vermehrt hinschauen, das ist vielleicht der tatsächlich neue Aspekt.

Hikikomori, sozialer Rückzug, NEET sind Phänomene, die man schon seit geraumer Zeit beobachten kann, wenn man nur wollte. Sie alle wurden in der Coronazeit lediglich geboostert, denn was vorher im besten Fall „freie Entscheidung“ und im schlechteren „Erkrankung“ war, wurde in den letzten Jahren aufgezwungen, subventioniert und gefördert, sodass man sich als Jugendliche/r sowie als Erwachsene/r ganz wunderbar in den eigenen vier Wänden verkriechen konnte, weil musste. Arbeit und Schule kamen direkt nach Hause, ebenso wie das Essen und jegliches erdenkliche Entertainment.

Und nach dem Virus kommt der Krieg und sowieso immer mit dabei: die Klimakrise; was hat die Welt da draußen also eigentlich noch zu bieten, außer Gefahren, Schrecken, Angst? Traurigkeit, Einsamkeit, Versagensängste und das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens machen sich unter den Jugendlichen breit (siehe Jugendstudie 2021).

Unter den Gedanken, welche die Jugendlichen häufig beschäftigen, steigen im Vergleich zu 2016 auf rasante Weise die Angst zu versagen, Traurigkeit, Einsamkeit und Sinnlosigkeit des Lebens. Doppelt so viele Jugendliche geben an, häufig Traurigkeit und Einsamkeit empfunden zu haben. Das hängt offensichtlich mit dem Lockdown zur Einschränkung der Pandemie zusammen; gerade im Alter der Entwicklung der Gefühlsreife sind mangelnde Erfahrungen ein großes Problem. Astat, Jugendstudie 2021, S.123

Da kann der digitale Raum, die schöne neue Welt durchaus eine reizvolle Alternative darstellen. Aber es bleibt häufig nicht bei einer kurzen Abwechslung, sondern wird zum kompletten Ersatz. Gerade in den letzten beiden Jahren wurde aus dieser Alternative die tatsächliche Realität und Schule und Arbeit und Freizeit wurden kurzerhand in den digitalen Raum gepackt. Das schien ja auch eine Zeit lang ganz gut zu funktionieren. Doch diesen kompletten Ersatz kann es so nicht geben, denn im Digitalen fehlt der Körper, die Körperlichkeit. Und auch wenn es manchmal so wirken mag, als hätte eine Entwöhnung davon stattgefunden: das Grundbedürfnis nach menschlicher Nähe bleibt bestehen und kann über digitale Distanz nicht ersetzt werden. Das führt zu Problemen, Ausgleichshandlungen wie Aggression oder Selbstverletzung, zu problematischer Selbstwahrnehmung und damit einhergehend zu Essstörungen und vielem mehr. Die digitale Welt kann die reale ergänzen aber nicht ersetzen, doch genau das wurde Kindern und Jugendlichen abverlangt, von vielen mitten in der Phase ihrer Identitätsentwicklung.

„Generation Pandemie“ durfte dem Unterricht von zu Hause aus folgen, was das Abhängen vor den diversen Bildschirmen nur noch intensivierte. Sich jetzt darüber zu wundern, dass Jugendliche gar nicht mehr anders können, wäre Heuchelei! Eine Umstellung, die es ermöglichte, das Bildungsangebot aufrecht zu erhalten, war notwendig. Dass diese von allen Beteiligten Opfer verlangte, war klar. Doch Schule ist mehr als nur Lernen und Gelerntes abrufen - viel mehr - und sehr viel von diesem „Mehr“ hatte in den Fernunterrichtseinheiten keinen Platz. Kein Chillen im Pausenhof, kein Austoben, kein Austausch face to face, kein Ventil für Emotionen, kaum erkennbare Mimik und Gestik. Und was blieb dann nach dem Unterricht? Wieder Handy, Laptop, social media, um noch irgendwie in Kontakt mit Freunden zu bleiben, um nicht den „sozialen“ Anschluss zu verlieren. Der digitale Raum wurde zum Ersatz für praktisch alles. Das prägt, das stumpft ab, das hinterlässt Spuren.

„aber die Jugendlichen machen doch sowieso nichts anderes, die sind das doch gewohnt!“

Die gern als „digital natives“ bezeichneten Jugendlichen haben sich diese digitalisierte Welt nicht ausgesucht. Sie sind hineingeboren in eine Welt, die von ihren Vorgängern gestaltet wurde und sie müssen damit zurechtkommen, aus Notwendigkeit. Sie nutzen diese Welt und ihre Möglichkeiten, weil sie nun mal zur Verfügung stehen und das Leben erleichtern und (bisher) nicht, weil sie mussten und nicht mehr anders konnten, gezwungen wurden. Man verzeihe mir den hinkenden Vergleich: die Autofahrt in den Urlaub fühlt sich anders an als der tägliche Berufsverkehr. Das Medium bleibt dasselbe aber den Trotz, die Bedrücktheit und die Abhängigkeit, die sich entwickeln, wenn man aus dem Auto gar nicht mehr herauskommt, kann man sich vorstellen.

„aber das Autofahren sind wir doch gewohnt“, tja…

Inzwischen dürfen/müssen sie wieder in die Schule und sollen dort so tun als wäre nichts gewesen, naja, die Masken sollten bitte schon noch aufbehalten werden, nicht dass plötzlich wieder zu viele Gesichter und Emotionen erkennbar werden. Aber den Rest vergessen wir schnell! Und gleich dazu auch die positiven Aspekte, welche man dieser Zeit des Verzichts und der Einschränkungen abgewinnen konnte (die neue Spontanität, die Flexibilität, die Erreichbarkeit, die Nutzung hybrider Methoden, die Zeitersparnis, die eingesparten Strecken für Termine, die neuentdeckten Organisations-Skills und den Umgang mit unterschiedlichen Medien, etc.). Einfach die Zeit zurückdrehen funktioniert so nicht. Für viele ist die neue Nähe nach all der Distanz schwer zu verdauen und es wäre wünschenswert, sich langsam wieder an eine hoffentlich nachhaltige Normalität heranzutasten. Möglichkeiten dazu gibt es jedenfalls mehr als vor der Pandemie. Nun gilt es Angebote zu machen, Räume zur Verfügung zu stellen, in denen die letzten Jahre und die aktuellen Krisen gemeinsam verarbeitet und überstanden werden können. Gegenseitiges Auffangen, zusammen neue Wege gehen, das brauchen die Jugendlichen jetzt. Und nicht nur sie. Die neue Einsamkeit haben wir zur Kenntnis genommen und dürfen sie - ja, müssen sie hinter uns lassen. Bühne frei für die neue Gemeinsamkeit!

V.M.
JugendCoachingGiovani
netz | Offene Jugendarbeit