Society | Krise im Sommer

Wenn die Seele Urlaub braucht

Abschalten ist in der Ferienzeit nicht immer einfach. In den Sommermonaten verzeichnet die Telefonseelsorge der Caritas die meisten Anrufe.

872 Anrufe sind im Juli vergangenen Jahres bei der Telefonseelsorge der Caritas eingegangen, im August waren es sogar 953. Somit waren die zwei Sommermonate jene Monate, in denen im vergangenen Jahr das Telefon am häufigsten geklingelt hat. Sonnenschein und Urlaubszeit sorgen für gute Laune und Entspannung für Körper und Geist ... möchte man meinen. Doch gerade die freien Tage am Urlaubsort oder Wochenende werden zunehmend zur stressigsten Zeit des Jahres. Eigentlich wollte man abschalten, dem Alltag entfliehen und die Gedanken an Job und Arbeitswelt hinter sich lassen, und findet sich wieder mit einem ununterbrochen klingelnden Handy, E-Mails, die beantwortet werden wollen und der genervten Familie oder Partnern.

"Mit dem Siegeszug der neuen Medien und dem Gefühl, durchgängig erreichbar sein zu müssen, sind ein Abschalten und ein Rückzug in die Privatsphäre fast unmöglich geworden", erklärt Silvia Moser, Leiterin der Caritas-Telefonseelsorge.

Die Folgen bleiben häufig nicht aus: Das Gefühl, ständig und überall erreichbar und leistungsfähig sein zu müssen, führen zu Dauerstress, im schlimmsten Fall zum Burnout. Auch das Familienleben ist dadurch oft stark beeinträchtigt, was wiederum zu Streitereien und weiterem Druck führt.

Von der neuen Entwicklung der Sommermonate hin zu den anrufstärksten Monaten ist Silvia Moser überrascht, denn eigentlich waren es in den zwölf Jahren, die es die Caritas-Telefonseelsorge nun gibt, die Wintermonate gewesen, in denen die meisten Anrufe eingegangen sind. Doch auch in diesem Jahr scheint sich der Trend von 2013 fortzusetzen, was wahrscheinlich auch auf die zunehmende Bekanntheit des Dienstes zurückzuführen ist, so Silvia Moser. Tendenziell sind es Alleinstehende, aber auch Menschen in Partnerschaften oder mit Familie zwischen 30 und 50 Jahren, die die grüne Nummer wählen. Hauptthema ist in 55 bis 60 Prozent der Anrufe die Einsamkeit. Sich den Urlaub finanziell nicht leisten zu können oder niemanden zu haben, der mit in den Urlaub fährt – auch diese oft schmerzlichen Erfahrungen von Einsamkeit und Ausgeschlossensein vom gesellschaftlichen Leben werden an die Telefonseelsorge herangetragen, berichtet Moser.

2013 sind insgesamt 10.445 Anrufe von der Caritas-Telefonseelsorge entgegen genommen worden. "Das ist bis jetzt die höchste Zahl und entspricht einem Anstieg von 16 Prozent gegenüber dem Vorjahr", sagt Moser. "Die Anrufer und ihre Nummern werden zwar nicht erfasst, doch lässt sich grob sagen, dass über 50 Prozent der Anrufe aus dem Burggrafenamt – Meran und Umgebung – kommen. Vielfach leiden diese Menschen an psychischen Erkrankungen und sind in der Psychatrie erfasst, sehen sich aber außer Stande, die Behandlung dort durchzuziehen. Das Pustertal folgt mit circa 15 Prozent aller eingehenden Anrufe, auf dem dritten Platz folgt der Raum Bozen, aus dem 10 Prozent aller Anrufe stammen."

Dabei zeige sich ein ganz anderes Bild als in der Hochglanzbroschüre Südtirol nach außen vermittelt wird. "Die Leistungsgesellschaft treibt die Menschen in den Ruin, die Leute gehen daran zugrunde", prangert Moser an. Den zunehmenden Zuspruch, den die Telefonseelsorge generell erfährt, bewertet sie zwar positiv – mehr und mehr Menschen haben den Mut, sich ihren Problemen zu stellen und sie in Worte zu fassen – andererseits wäre sie froh, wenn es die Telefonseelsorge gar nicht brauchen würde. Ein Fingerzeig an Gesellschaft, Politik und Kirche, der nach strukturellen Veränderungen schreit.

Über die Hälfte der Anrufer rufen öfter an, sind so genannte "Langzeitanrufer". "Es sind hauptsächlich Menschen, die überall gewesen und überall durchgefallen sind. Das Gefühl, dass niemand für sie Zeit hat, dass sie allen zu streng werden – auch öffentlichen Beratungsstellen und Einrichtungen – und ihr Leben keinen Sinn hat, treibt sie immer weiter in die Isolation. Dabei wollen sie oft einfach nur mit jemandem reden ohne für ihre Lebensweise oder ihre Ansichten verurteilt zu werden, und sind froh, wenn sie sich anonym an uns wenden können", erzählt Silvia Moser und appelliert an die Politik, dem Phänomen der Langzeitanrufer und den bedenklichen Entwicklungen dahinter allgemein eine neue Empfindsamkeit an den Tag zu legen.

Die Caritas-Telefonseelsorge ist auch während der Sommermonate rund um die Uhr unter der Grünen Nummer 840 000 481 anonym aus ganz Südtirol erreichbar.

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