Culture | Baugschichte

Tiroler Verdienstschilder?

Das "Tiroler Viertel" in Berlin kann mit einer nicht uninteressanten "Berg"-Geschichte aufwarten. Ein Streifzug durch eine städtische Wohngegend. Hinauf zum Brenner. [Mit Bildergalerie]
Tiroler Viertel
Foto: SALTO
  • "Sonderzug nach Pankow" nennt sich ein 1983 veröffentlichtes Lied des deutschen Rocksängers Udo Lindenberg. Er hatte es geschrieben, nachdem ihm zuvor ein Auftritt im Ostberliner Stadtteil Pankow – mit hoher Dichte an DDR-Bonzen – aus politischen Gründen verwehrt wurde. Der geheime Hit über Pankow gehört seitdem zum immateriellen Kulturerbe der Stadt mit turbulenter Geschichte – auch baugeschichtlicher Natur. Eine solche führt mitunter nach Tirol und über den Brenner bis Trient. Und sie ist äußerst skurril. 
    Um 1900 gründete sich im Südwesten von Pankow und angrenzend an den Ortsteil Prenzlauer Berg das sogenannte Tiroler Viertel, ein 37 Hektar großes, dreieckig angelegtes Wohnquartier mit reichlich sozialer Wohnbauhistorie. Unmittelbar an den Gleisanlagen der Stettiner Bahn gelegen, war diese Stadtgegend im späteren Verlauf ihres Bestehens in unmittelbarer Nähe der Berliner Mauer. Sogar mit Aussichtsberg.

  • Tirol in Berlin: Straßennamen im Berliner Ortsteil Pankow verbinden seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Großstadt mit diversen Gegenden in den Tiroler Alpen. Foto: SALTO
  • Die Ursprünge des Berliner Tiroler Viertels reichen auf eine Stadterweiterung um 1900 zurück, bei der mehrere Straßen und Plätze Namen mit Bezug zu Tirol erhielten. Angefangen hat alles mit der Maximilianstraße, als erste Zugangsstraße ins neue Tiroler Viertel, mit ersten drei Häusern. Rundherum waren noch zahlreiche Grünanlagen, Flächen für Kleingärtner und Kleingärtnerinnen mit frei angelegten Gärten und Lauben. Zu einer nächsten größeren Erweiterungswelle kam es ein paar Jahre später, nachdem ab 1905 und vor allem ab 1910 ein Straßennetz eine moderne Erschließung der Wohnbebauung ermöglichte. 

  • Berliner Grenzgegend: Das "Tiroler Viertel" lag unmittelbar an der Berliner Mauer. Foto: Wikipedia

    Seitdem zieren die Toblacher Straße, Brixener Straße, Tiroler Straße, Trienter Straße, Zillertaler Straße und Brennerstraße das Stadtbild, und dazu kommen zahlreiche ältere – einige unter Denkmalschutz stehende – und neuere Gebäude, die das Wohngebiet prägen. Außerdem ein „Berg“, der im Volksmund bis heute den Namen Brenner trägt, offiziell aber immer noch den Namen Andreas-Hofer-Platz führt. Bis 1928 war der Platz unbebaut und wurde für repräsentative, ästhetische oder dekorative Zwecke Ende der 1920er Jahre zur „Schmuckanlage“ umgestaltet. Zum „Berg“ wurde er nach dem 2. Weltkrieg, als auf den Trümmern 1943 zerbombter Gebäude (zwischen Tiroler Straße, Toblacher Straße und Brixener Straße) ein flacher und von den Leuten genannter Brennerberg geschaffen wurde. Heute ist er Parkanlage, verfügt über eine große Wiese, mit Bäumen, Freizeitgeräten und viel Gebüsch. 
     

    Konnte man etwa vom "Brenner" in den Westen sehen?

  • Versteckte Aussicht: Am "Brenner" oder "Brennerberg" in Berlin/Pankow. Die kleine Freizeitoase wurde auf einem wenige Meter hohen Trümmerhaufen angelegt. Foto: SALTO
  • Höhenmäßig reicht der Brenner bei weitem nicht an die höchste natürliche Erhebung Berlins, den 66m hohen Kreuzberg, heran, doch der kleine Hügel eignete sich im Laufe der Jahrzehnte trotz bescheidener Höhe für Rodelpartien im Winter und im Sommer bestens für Feierlichkeiten und andere sportliche Aktivitäten. 
    Wie gut man vom Brennerberg einst über die Mauer in den Westen schauen konnte? Die westliche Begrenzung (an der Dolomitenstraße) lag zwischen 1961 und 1990 im Bereich der Berliner Mauer, die Höhe des Berges knapp darüber. 
    Dem von Udo Jürgens nur ein Jahr nach dem Mauerfall komponierten Fußballsong für die Weltmeisterschaft 1990 mit dem Schunkel-Refrain "Wir sind schon auf dem Brenner / Wir brennen schon darauf / Wir sind schon auf dem Brenner / Ja, da kommt Freude auf" kommt jedenfalls am Berliner Brenner eine neue, erweiterte Bedeutung zu. Er lässt sich beim lässigen Fußballspiel – mit Freistoß-Übungen ohne oder mit „Mauer“ – auf den Trümmern der Geschichte einwandfrei nachsingen. 

  • Für den "Hugo"...: Ein Berliner Graffiti-Gruß in Richtung des "holundrigen" Tiroler Alpencocktail? Wohl eher nicht. Als Willkommensgruß an einem der Eingänge zum Tiroler Viertel aber durchaus passend für "Berliner Luft"-Verhältnisse. Foto: SALTO
  • Auch im nahen Stadtteil Schöneberg – es gehört erst seit 1920 zur Großstadt Berlin – verfolgten die Stadtväter um 1910 nördlich des Innsbrucker Platzes die Verwirklichung eines Tiroler Viertels. Durch den Ersten Weltkrieg, die Inflation sowie den Übergang von Schöneberg an Berlin wurde das städtebauliche Vorhaben weder geschlossen noch finalisiert. Die Bozener Straße, Sterzinger Straße, Meraner Straße und Eisackstraße sind aber bis heute Zeugen dieser angedachten Stadtentwicklungsidee. Ansonsten gäbe es zwei Tiroler Viertel in Berlin, was wohl – bei aller Liebe der Großstädter zur Alpengegend – etwas zu viel des Guten wäre.
     

    • Bildergalerie: Ein "Salto" ins Berliner "Tiroler Viertel" und auf den "Brenner". Kommen Sie mit!