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Utopische Seilbahnidee

Das größte Seilbahnprojekt aller Zeiten in den Dolomiten. Teil II der Gastbeitrag-Serie zum Architekten Gio Ponti.
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Foto: Dissertation Ivan Bocchio

Südtirol galt bereits während des Habsburgerreichs als Zentrum kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Transfers. Schon früh entstand auch der Tourismus. Diese Entwicklung setzte sich fort als Südtirol 1919 in das Königreich Italien eingegliedert wurde, wenn auch mit veränderten Vorzeichen, denn nun wurde Südtirol auch für italienische Reisende ein beliebtes Ziel. Auch das Regime Mussolinis erkannte den Wert des alpinen Tourismus innerhalb seiner politischen Ideologie. Einerseits sollte dieser als wirtschaftliche Ressource dienen, anderseits als Hilfsmittel Südtirol zu "italianisieren". Zukunftsweisende Bauaufgaben sollten der neuen Provinz ein fortschrittliches Gepräge im Zeichen des Faschismus geben. Vor diesem Hintergrund entwickelte Gio Ponti (1891–1979) ein visionäres „Seilbahnprojekt in den Dolomiten“.

 

Auftraggeber dieses Entwurfs war der aus Vicenza stammende Gaetano Marzotto. Die Firma Marzotto war eines der ersten Textilunternehmen Italiens und ist heute noch teils als Besitzer der Marken Hugo Boss und Valentino weltführend in diesem Gewerbe. Marzotto baute in der Zwischenkriegszeit in Jesolo und Cortina mehrere Hotels auf. Er beauftragte Ponti, den er vermutlich 1936 bei einer Gelegenheit eines Immobilienerwerbs in Mailand kennengelernt und nachdem er vom Bau des Hotels Albergo Sportivo Valmartello (1935) in Südtirol erfahren hatte, mit dem Seilbahnprojekt zur touristischen Erschließung der Dolomiten.

Dieses zwischen 1941 und 1942 entwickelte Vorhaben sollte das gesamte Dolomitengebiet mit 160 Kilometern Seilbahnen von Bozen über St. Ulrich bis Cortina verbinden. Anspruch Pontis war es nicht nur „die größte Seilbahnanlage der Welt einzurichten, sondern auch ein perfekt organisiertes touristisches Unternehmen aufzubauen“. Besonders aussichtsreich war für Ponti, dass in die Planung dieses speziellen Transportkonzepts umfangreiche infrastrukturelle Maßnahmen wie der Bau von Hotels, Schutzhütten, Restaurants, Dienstleistungseinrichtungen, Ski- und Kletterschulen einbezogen werden konnten. Ein weitläufiges Netz an Haupt- und Nebenlinien mit Haltestellen an besonders attraktiven Lagen sollte dem Benutzer ein spektakuläres Naturerlebnis auf die neue italienische Bergwelt bieten. Wie es Ponti in seinen Darstellungen vermerkte, sollten zudem in allen Stationen, die nach den „Idealen Prinzipien“ der Architettura razionale erbaut werden sollten, Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, um „die Sonntagsmesse auszuführen“. Die Pfeiler der Seilbahn aus Stahlbeton, die zu raumhaltigen Bauten ausgebildet werden sollten, erinnern an Maurice Braillards (1872–1954) Bergstation auf dem Mont Salève (1932) bei Genf. Möglicherweise wurde Ponti von der Formensprache dieser spektakulären Anlage angeregt, wobei er allerdings ein multiplizierbares System entwarf mit Masten, die eine vernetzende Überkreuzung in zwei Richtungen ermöglicht hätten. Auch von den mechanischen und verkehrstechnischen Erfahrungen, die Ponti bei der Planung des Breda Zugs ETR 200 «velocissimo», der bei der 5. Triennale di Milano von 1933 als Prototyp präsentiert wurde, gesammelt hatte, fließen in das Projekt ein.


Es versteht sich von selbst, dass in den sich rasch entwickelnden Verkehrsbedürfnissen des Automobilzeitalters an den Talstationen der Dolomitenbahn riesige Parkgaragen vorgesehen wurden.
Das Regime unterstützte die Autoindustrie vielseitig, denn der nuovo uomo sollte der Ideologie folgend ein Auto mit kräftigem Motor durch Land- und Bergstraßen Italiens lenken. Zudem wendete es alle Organisationsformen des Fremdenverkehrs an, um eine faschistische Nutzung der Alpen im Sinne einer inneren Kolonisierung anzustreben. Der Wirtschaftsfaktor Tourismus wurde effizient gefördert und brachte Jahr für Jahr steigende Nächtigungszahlen.


Ponti entwickelte parallel zur Erschließungsplanung des Dolomitengebietes eine Theorie für eine alpine Hoteltypologie, die er principi generali nannte, eine Vision für Hotelbauten im Sinne des razionalismo in den Alpen. Er vertrat das, was europaweit die moderne Kunst zur damaligen Zeit antrieb und weitertrieb: der Widerspruch gegen alles, die Abkehr von historischen Formen. Selbst Pablo Picasso, der Künstler des Jahrhunderts, gab das Stichwort vor: „Auch ich war gegen alles“.

Durch graphische Darstellungen mit erläuternden Stichpunkten veranschaulicht Ponti wie wenig funktional und altmodisch der nicht italienische Hotelbau (schema non italiano) sei, während die Hotels des razionalismo (schema nuovo) in seinen Augen klar konzipiert und zukunftsgewandt waren. Ponti stufte damit die traditionelle Hotelarchitektur Südtirols als gering durchdacht ein und propagierte stattdessen die Bauweise des razionalismo als einzige funktionierende Architektur in den Bergen der Zukunft.

 

Bemerkenswert ist in diesem Kontext allerdings, dass die „principi generali“, die Ponti in seinem «schema nuovo» als italienische Innovation erläutert, keineswegs neu waren. Bereits vor Veröffentlichung seiner architektonischen Prinzipien hatte beispielsweise der österreichische Architekt Franz Baumann (1892–1974) das Hotel Monte Pana (1931) mit mächtigem Pultdach und konkavem Schwung zur Bergseite entworfen. Im westlichen Bereich war es, die Sonne einfangend, konvex nach Süden gekrümmt und öffnete seine ganze Breitseite der Natur und der Aussicht. Das Hotel Monte Pana verwirklicht damit bereits die architektonischen Kriterien, die Ponti erst zehn Jahre später als neue und italienische Bauweise des razionalismo propagiert hat. Baumann hatte somit etliche Jahre vor Pontis „schema nuovo“ mitgewirkt an der Schaffung eines neuartigen regionalen Stils, der sich dennoch an die Moderne anlehnt.


Das von Clemens Holzmeister (1886–1983) entworfene Hotel Drei Zinnen (1930) entsprach hingegen der Bauweise, die Ponti später seinem „schema non italiano“ zuordnete. Das massiv kleinteilig durchfensterte Mauerwerk und das weit ausladende Satteldach verleiht dem Gebäude eine solide Schwere. Anders als Baumann gestaltet Holzmeister den axial-symmetrischen Bau als Solitär, bei dem vorspringende Risalite eine Aussichtsterrasse rahmen, die ganz in die Fassade eingerückt ist.
Solch differierende Entwurfshaltungen zeigen, dass es in Südtirol und Tirol bereits vor Ponti eine Vielfalt an Konzepten gab, die sein einfaches Gegensatzpaar nicht erfassen kann.


Was Ponti mit der Festlegung seiner „principi generali“ versuchte, war einerseits das faschistische Regime für diesen Eingriff zu überzeugen, denn schlussendlich fielen die Entscheidungen für große Projekte im Palazzo Venezia in Rom, und andererseits, die eigene Architektur des Hotels Albergo Sportivo Valmartello einige Jahre nach Errichtung (1935) ins rechte Licht zu rücken. Somit nutzte er seinen früheren Bau, retrospektiv, als Ideal eines «italienischen Hotels».

Aber trotz hohen Zielvorstellungen der Auftraggeber wurde das von Ponti errichtete Hotel bereits wenige Jahre nach seiner Fertigstellung zur Ruine, da es wirtschaftlich nicht gewinnbringend war. Die Seilbahnvision wurde niemals realisiert.