Politics | Aus Berlin

Nawlo wartet

Dr. Jamil Nawlo ist Herzchirurg, er stammt aus Aleppo in Syrien. Im Oktober 2014 hat er in Deutschland Asyl beantragt.
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Er wohnt in einem „Übergangsheim“, und darf, solange sein Asylverfahren läuft, nicht arbeiten, nicht verreisen. Dies ist die zweite Folge einer Miniserie, in der ich Dr. Nawlo auf seinem Weg begleite.

 

Dr. Nawlo wartet.

Er hat keine Ahnung, wie lange es noch dauern wird, bis sein Asylantrag beantwortet wird.

Er hat ihn im Oktober 2014 gestellt, sich seine Fingerabdrücke abnehmen und sich fotografieren lassen, und begonnen, allen behördlichen Anweisungen, Hinweisen, Bescheiden und Vorladungen Folge zu leisten.

Manche sind Wochen hier im Heim, manche Monate, sagt Nawlo. Ein Iraker wartet seit sechs Jahren auf eine Entscheidung.

Also wartet auch Nawlo.

Er lernt Deutsch.

Er schlägt mit den anderen Syrern im Flüchtlingsheim die Zeit tot.

Er hofft.

Und wartet.

Dr. Nawlo hat Asyl beantragt, aber manchmal würde er auch schon viel für ein Badezimmer geben, das man abschließen kann.

Zwischendurch telefoniert er. Mit seiner Frau. Seinen zwei Söhnen. Mit seiner Mutter. Mit Bekannten aus Syrien, die auch nach Deutschland wollen, er berät sie, welches die beste Reiseroute wäre, und wie sie am ehesten an ein Visum kämen.

Nawlo besucht einen Deutschkurs, jeden Vormittag, in einer kirchlichen Einrichtung gleich neben dem Dom. Der Kurs ist für ihn eine kleine Rettung: Sein Tag ist ausgefüllt und er macht Fortschritte, so klein und beschwerlich sie auch sein mögen. Es sind Fortschritte, auch wenn sie nur in der Grammatik stattfinden.

„Wenn du nicht in die Schule gehst, sieht dein Tag im Heim ungefähr so aus“, sagt Nawlo, „du stehst am Morgen auf, gehst einkaufen, kochst was, und dann hast du nichts mehr zu tun, du sitzt herum, rauchst, oder säufst dir einen an, du fängst an, dich mit deinem Nachbarn zu streiten, manchmal bis die Fäuste fliegen.“

Der Deutschkurs ist nicht obligatorisch, aber für Nawlo eine „moralische Pflicht“: „Sonst sind wir später, wenn unsere Kinder Deutsch gelernt haben, die Esel, die kein Deutsch verstehen“.

Nawlo lernt.

Er wartet.

Er guckt Youtube-Clips aus Syrien auf seinem Handy.

Er stellt sich vor, wie es wäre, mit seiner Frau eine Kreuzfahrt auf der Donau

zu machen, durch Deutschland, Österreich, Ungarn, Serbien. Es ist seine Fluchtroute, er träumt davon, sie als Urlaubsreise noch einmal zu befahren, diesmal ohne die Angst und die Unsicherheit.

Manchmal verkriecht Nawlo sich in seinem Zimmer, wenn seine beiden Mitbewohner in der Schule oder beim Einkaufen sind. Er muss „seinen Kopf freimachen“, sagt er, er braucht hin und wieder ein bisschen Privatsphäre, einen Augenblick des Alleinseins, den es hier im Übergangswohnheim fast nie gibt: die Männer schlafen zu dritt auf engem Raum, in Stockbetten, sie duschen gemeinsam, ohne Vorhang, ohne Tür, sie essen, schlafen, schauen fern, alles im selben Raum.

Dann bekommt Nawlo einen Brief. An einem Samstag. Schon als er den gelben Umschlag sieht, weiß er, was der Brief bedeutet. Trotzdem wartet er, bis er in seinem Zimmer ist, um den Brief aufzureißen.

Auf den Brief hat Doktor Nawlo seit mehr als zwei Monaten gewartet: Seitdem er sich in Chemnitz im Oktober 2014 dem Asylverfahren anvertraute.

Jetzt macht der Brief seinem Warten ein Ende.

Als erstes ruft er seine Frau an, dann seine Mutter, die Entscheidung ist da, ich darf bleiben!

Dr. Nawlos Asylantrag wurde stattgegeben, er bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre, das heißt, er darf seine Frau und Kinder nachholen, „Familiennachzug“ im Behördendeutsch des BAMF.

Seinem Warten hier, im Übergangswohnheim in Brandenburg an der Havel, entsprach seit Oktober 2.000 Kilometer weit weg das Warten seiner Familie, zuerst in Aleppo in Syrien und dann in Beirut im Libanon: Hier wartete Nawlo, und dort Nawlos Frau und seine beiden Söhne.

Auf die Frage, „und wie geht es deiner Familie?“, antwortete Doktor Nawlo stets, „gut“, es musste ihnen gut gehen, weil er von hier nichts machen könnte, wenn es anders wäre. Nur einmal, als ich nachfrage, sagt er, „meine Frau weint viel“, sie tue sich schwer, allein mit zwei Söhnen in Beirut, und ohne zu wissen, wie lange sie durchhalten müsse. Und der großer Sohn mache Schwierigkeiten. Es fehle ihm der Vater, er sei hyperaktiv, in Beirut bekomme er jedenfalls die Zuwendung nicht, die er bräuchte. Aber der Kleine lerne gut.

Fast alle hier im Flüchtlingsheim haben jemanden, der auf sie wartet, haben eine Familie, die sie zurückgelassen haben. Einer der Männer aus Syrien, Abu Khalil, hat sogar zwei Frauen in Syrien. Die anderen ziehen ihn auf: „Zwei Frauen hat er, und doch ist er hier genau so alleine wie wir...“

In ihrer Heimat wären sich die Männer nie so nahe gekommen. Hier sind sie Schicksalsgenossen geworden, die sich am selben Floß der Hoffnung festkrallen: Kurden, Aleppiner und Damaszener; Betende und Atheisten; Anhänger der Rebellen und Verteidiger des Regimes; Bauarbeiter und feine Schneider; Analphabeten und Herzchirurgen.

Wie in einem Sanatorium, einem Krankenhaus kennen sie die Geschichten der jeweils anderen: Mahmoud, der hat neun Länder durchquert, ist neunmal verhaftet, geschlagen, eingesperrt worden. Oder Saher, der hat einem hohen Tier bei einer deutschen NGO in Syrien das Leben gerettet, doch will er das nicht an die große Glocke hängen, er soll nach Italien abgeschoben werden.

Die Männer ziehen sich gegenseitig auf, tauschen Kniffe aus: Wer hat Chancen auf Asyl, wer wird abgeschoben werden, nach welcher Logik wird man im Sozialamt, im Jobcenter abgefertigt? Man lotst einander durch ein Wirrwarr an Behörden, deren Sprache man nicht versteht, und die nach eigenen Regeln funktionieren, die man nicht durchblickt.

Ein Drei-Bettzimmer, das größer ist als die anderen, und einen runden Tisch hat, ist zum Aufenthaltsraum umfunktioniert worden, hier wird geplaudert, gelacht, geschwiegen, gewartet bis zum Abendessen. Ich bekomme Kaffee serviert, und - trotz Rauchverbots - eine Wasserpfeife angeboten.

Nawlo ist hier der „Duktur“, er ist einer der Ältesten, und wird mit Respekt behandelt. Im Gegenzug gibt er den Jüngeren gute Ratschläge, animiert sie zum Deutschlernen, versucht ihnen neue Rezepte beizubringen.

Man wartet miteinander, bis einer weiterzieht. Am besten dran sind jene, wie Nawlo, die schon einen positiven Asylbescheid bekommen, aber noch keine Wohnung gefunden haben und deshalb weiter im Heim wohnen. Sie haben ein Ziel, und die Ungewissheit hat ein Ende.

Am schlimmsten dran sind Leute wie Mahmoud. Sein Asylantrag ist abgelehnt worden, seine Berufung gegen die Ablehnung abgewiesen, jetzt droht ihm die Abschiebung.

Mahmoud ist Schneider von Beruf, er ist groß und hager, und lässt sich einen Bart stehen. Er hat einfach nur Pech gehabt: Zu wenig Geld, um sich eine komfortablere Flucht zu leisten, und zu viel Pech, als dass es keine Spuren hinterlassen könnte. Neun Länder hat er durchreist, und neunmal sei er verhaftet worden, sagt er, geschlagen, eingesperrt.

Nawlo konnte es sich leisten, von Beirut nach Belgrad zu fliegen; Mahmoud sei von Thessaloniki bis Belgrad zu Fuß gegangen, sagt er, wochenlang, monatelang, durch die Wälder.

In Ungarn hat die Polizei beide erwischt. Als Nawlo aufgegriffen wurde, funktionierte die Maschine zur Abnahme der Fingerabdrücke im Auffanglager für Flüchtlinge gerade nicht, oder die Behörden waren einfach nur überfordert, weil an dem Tag zuviele Flüchtlinge auf einmal festgehalten wurden, jedenfalls ließen sie ihn laufen, ohne dass er einen Asylantrag stellen musste. Mahmoud wurde eingesperrt, er wollte einfach nur weiter. Doch damit man ihn gehen ließ, musste er einen Asylantrag in Ungarn stellen – jetzt ist das der Grund, dass er nicht in Deutschland bleiben darf.

Mahmoud ist ein „Dublin-Fall“, Ungarn soll ihn wieder aufnehmen, es droht ihm die Abschiebung. Weil er dort seine Fingerabdrücke hinterlassen hat, eine Maschine hat sie aufbewahrt, digital konserviert.

Die Maschine hat seinen Traum zerstört. „Ich wollte einfach nur in Deutschland bleiben dürfen“, sagt er, verzweifelnd,„vielleicht soll es so sein, dass mein Traum unter der Erde endet?“

Mahmoud hat Angstzustände. Während wir reden, blickt er immer wieder starr vor sich auf die Tischplatte und atmet langsam tief und gepresst. Nawlo versucht ihn aufzuheitern, so zu tun, als sei alles OK. Aber für Mahmoud ist gar nichts OK.

Er ist in Behandlung bei einer Psychologin, die traumatisierten Flüchtlingen Unterstützung anbietet, Nawlo begleitet ihn zu den Sitzungen in Moabit. Ein psychologisches Gutachten, dass er „reiseunfähig“ ist, könnte seine Abschiebung hinauszögern, bis die dafür zur Verfügung stehende Frist abgelaufen ist.

Er stammt aus Raqqa, der mittlerweile berühmt-berüchtigten „Hauptstadt“ des Islamischen Staates. Er und ein paar Freunde, ganz am Anfang des Sich-Ausbreitens des IS, hätten dagegen protestiert , dass der IS eine Kirche schwarz angemalt hatte. Es sei doch auch ein Haus Gottes, ein Ort des Gebets, wenn auch einer anderen Religion. Drei seiner Freunde seien darauf umgebracht worden, er flüchtete, zuerst nach Beirut.

Doch selbst im Libanon, wo er als Schneider arbeitete, hätte ihn alle verdächtigt, zum IS zu gehören, nur weil er aus Raqqa stammt. Dabei hat der IS ihm Raqqa genommen.

Als Mahmoud bei der Psychologin seine Flucht aus Syrien schildern soll, braucht er vier Stunden, und noch immer ist er nicht in Deutschland angekommen. Immer wieder muss er die Erzählung unterbrechen, verschnaufen, neue Kraft schöpfen.

Nawlo erzählt, dass Mahmoud als Schneider in einem bekannten libanesischen Atelier für Popstars Kleider nähte. Deutschland braucht ihn vielleicht weniger als einen Herzchirurgen, aber Mahmoud hätte die Hilfe nötiger. Er hätte es verdient, auch einmal Glück zu haben.

Dr. Nawlo wird bald aus dem Flüchtlingsheim ausziehen. Er hat eine kleine Wohnung gefunden, jetzt ist er dabei, Möbel zu organisieren, Besteck, ein Bett, einen Tisch. Nawlo stellt sich vor, eines Tages in Potsdam in einer Villa zu wohnen.

Mahmoud träumt davon, bleiben zu dürfen.

 

Die Mini-Serie zu Nawlo ist ursprünglich bei den Krautreportern erschienen.