Culture | Dokumentar
Gladbeck: Das Geiseldrama
Foto: Netflix
Die Geschichte zu erzählen, scheint müßig, die allermeisten kennen sie, ja vor allem die Älteren. Allen Jüngeren sei nicht zu viel verraten, schließlich besteht der Reiz dieses neuen Films auch darin, Geschehenes zum ersten Mal zu erfahren. All die anderen, die Älteren nämlich, werden sich erinnern, nickend die Bilder wiedersehen, die man von damals kennt. Beinahe ikonographisch wirkt das aus hundert oder mehr Kameras gefilmt und fotografierte Material. Zwei schmierige Typen mit Unterhemd, Lederjacke und einer Waffe in der Hand. Ein Auto, ein Bus, ein Spaziergang. Zwei und bis zu dreißig Geiseln. Und schließlich die Gespräche mit den Journalisten, makabre Zeugnisse von aus der Kontrolle geratener Arbeitsmoral.
Volker Heise widmet sich dem Thema Gladbeck, und er ist zugegebenermaßen nicht der erste. Unzählige Dokumentationen zum Thema gibt, Spielfilme und Einordnungen. Was also kann dieser Beitrag hinzufügen? Nun, es ist vor allem die Perspektive, die in diesem Fall hervorsticht. Denn der Film besteht, so weist er gleich zu Beginn darauf hin, lediglich aus Originalaufnahmen, Archivmaterial jener Tage. Dazu zählen Fernsehbeiträge, Radiosendungen, und die schier unüberschaubare Menge an Videomaterial, aufgenommen von einer Armee an Reportern. Die gehören im Rückblick, ebenso wie die Polizei, zu den unglücklichen Figuren der Geschichte. Gescholten wurden ihre Methoden, und das zurecht. Ohne Respekt oder Anstand hielten sie ihre Objektive, Mikrofone und letztlich ihre Menschenverachtung den Tätern und Opfern ins Gesicht. Die Medien wurden zu Verbündeten der Täter, ein Fazit, welches erst im Nachhinein gezogen wurde, im Glauben und im Versprechen, Verbesserung anzustreben. Auch die Polizei wurde heftig kritisiert, für ihre schiere Inkompetenz, die, so scheint es, durch Überforderung zu erklären ist, nicht aber zu entschuldigen. Ihre Perspektive, das sei erwähnt, wird in Heises Film komplett ausgespart. Man erfährt nichts über die Pläne und Methoden der Polizei, nichts von der Flucht vor der Verantwortung, die hinter den Kulissen stattfand. Dieser Umstand ist dem Blickwinkel des Films geschuldet, den Fernsehbildern, die drei Tage lang in alle Haushalte geliefert wurden.
Da der Film auf Kommentare, Interviews, oder sonstige Standards des Dokumentargenres verzichtet, also bloß zeigt, ohne zu werten, zwingt Heise sein Publikum in die Position jener, die auch damals gebannt vor den Bildschirmen saßen. Denn spannend ist die Geschichte durchaus, sie wirkt wie die eines Spielfilms. Wir selbst werden zu Voyeuren und zucken zusammen, wenn sich der Schrecken eines wahren Verbrechens offenbart. Der Film passt so gut in den Zeitgeist, der eine große Begeisterung vieler Menschen für das Genre „True Crime“ aufweist. Mehr denn je sind sie, die Menschen, von wahren Verbrechen fasziniert, jagen ihnen hinterher wie die Reporter den Geiselnehmern von Gladbeck.
Es wäre zu einfach zu behaupten, dass die Fehler, die von den damaligen Medien begangen wurden, heute nicht mehr passieren würden. Im Gegenteil, ein Gladbeck 2.0 wäre rezeptionstechnisch noch um einiges schlimmer. Denn anders als 1988 besitzt heute jeder und jede ein Smartphone, nicht nur die Journalisten wären also mit Kamera und Mikrofon ausgestattet. Heute würden die Geiselnehmer zu Stars im Internet werden, Tik Tok und Instagram wären voll mit ihnen. Die Arbeit der Polizei würde deutlich erschwert werden, die Bilderflut niemals enden. Die Gier nach dem besten Bild, dem krassesten Moment, sie ist ungebrochen. Mehr noch gilt es heute, aus der Flut herauszustechen, wie weit manche Menschen dafür gehen würden, ist ungewiss. In einem Szenario, in dem Verbrecher bereitwillig zu Kameras sprechen, mit ihnen gelacht und gescherzt wird, Kaffee gereicht und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, verkannt wird, scheinen dem digitalisierten Menschen alle Türen offen. Der Wahnsinn forderte 1988 drei Todesopfer, darunter waren aber nicht die Geiselnehmer. Zwei der Toten waren junge Menschen, Opfer eines Totalversagens von Gesellschaft, Staatsgewalt und Medien. Vielleicht würden sie noch leben, hätten alle Instanzen professionell gearbeitet.
Volker Heise hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte von Gladbeck ausschließlich mit Originalaufnahmen nachzuerzählen. Dass es ihm aufgrund von ausreichend Bild-und Tonmaterial gelungen ist, ist bezeichnend und zeigt: Es würde den Film heute nicht geben, hätte die Sensationsgier der Menschen an diesen drei Tagen vor der Menschenwürde Halt gemacht.
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