Environment | Fauna

Ungebetene Wilde

Sie fressen alles, vermehren sich rasch und sind wanderlustig: Wildschweine werden zusehends zum Problem. “Eine schwierige Mission”, sagt Wildbiologe Lothar Gerstgrasser.

Sie kommen heimlich. Unwissentlich überqueren sie Grenzen, die für sie nicht existieren. Selten bekommt man sie zu Gesicht, der einzige Hinweis auf ihre Anwesenheit ist zumeist eine Spur der Verwüstung, die sie auf ihrem Weg hinterlassen. Doch ab und zu hat man Glück und erhascht einen Blick auf ein oder mehrere Exemplare, bevor sie wieder im Wald verschwinden. Weniger glücklich dürfen sich allerdings jene Landwirte im Pustertal schätzen, deren Feldern eine Gruppe von Wildschweinen Ende Juli einen Besuch abgestattet hat. Auf rund 1.100 Metern Meereshöhe haben sich die Tiere an Knollen und Insekten im Erdreich gütlich getan. Des einen Freud ist in diesem Fall jedoch des anderen Leid. Die Aufregung, die es immer wieder gibt, wenn Wildschweine im Land auftauchen, “ist berechtigt”, sagt Lothar Gerstgrasser. Seit 2007 ist der gelernte Forstwirt und Wildbiologe beim Südtiroler Jagdverband tätig. Er kennt sich aus mit den wilden Schweinen und den Problemen, die sie den Bauern bereiten können.


Auswärtige Wilde

Das Wildschwein ist in Südtirol kein Unbekannter. Momentan gibt es zwar keinen Ort, kein Gebiet, wo ganzjährig Wildschweine anzutreffen sind, “doch das war durchaus einmal so”, erinnert sich Gerstgrasser. Die Tiere, die in den vergangenen Jahren hin und wieder im Land gesichtet werden, sind sozusagen “eingewandert”. So auch die vier Wildschweine, die Ende Juli im Pustertal unterwegs waren. Sie stammten aus Kärnten und dem bellunesischen Cadore, wie Landesrat Arnold Schuler auf eine Anfrage von Pius Leitner mitteilt. Vor allem Jungtiere tendieren dazu, sich neue Lebensräume zu suchen, wird der Platz einmal eng. Und das passiert bei den Wildschweinen schneller als manch einer erahnen möchte. “Geht es den Tieren gut, kann es durchaus passieren, dass sich der Bestand innerhalb nur eines Jahres verdoppelt”, schildert Lothar Gerstgrasser die große Reproduktionsfreude der Wildschweine.

Wildschwein-Herde in Kalabrien: Acht Bürgermeister der Region forderten Ende Juli 2016 von der lokalen Regierung, die Wildschwein-Jagd früher und für einen längeren Zeitraum anzusetzen.

Im Trentino und in der Provinz Belluno habe es in jüngster Zeit einen enormen Zuwachs gegeben, berichtet der Wildbiologe: “Nach 2005 hat es einige gute Jahre gegeben.” Gute Jahre, das sind solche, in denen wenig Schnee fällt. Die winterliche Kälte selbst kann den Wildschweinen nicht viel anhaben, “sie sind gut angepasst”, weiß Gerstgrasser. Vielmehr setzen den Tieren schneereiche Winter zu. Wie jene 2010 und 2013, als sie in den Nachbarregionen regelrecht dahingerafft wurden. Entsprechend weniger Wildschweine gab es infolge auch in Südtirol. Das belegen die Zahlen, die im Jagdverband gesammelt werden: 2005 wurde gerade einmal ein einziges Wildschwein erlegt, 2007 waren es bereits 12. 2008 war die Zahl der erlegten Tiere auf 20 angestiegen, in den Folgejahren wurde im Durchschnitt ein Dutzend Tiere pro Jahr erlegt. 2013 und 2014 wurden drei beziehungsweise ein Wildschwein erlegt, 2015 vier. Und heuer? “2016 sind bisher sechs Stück erlegt worden”, berichtet Gerstgrasser. Allesamt im Pustertal: vier in Vintl und je eines in Mühlbach und Lajen.


Problematische Allesfresser mit Appetit

Dass sich Wildschweine so rasch vermehren, ist nicht nur ihrer frühen Geschlechtsreife zu verdanken, sondern auch der Tatsache, dass sie stets mehr als genug Nahrung finden. “Der Tisch ist für Wildschweine überall reichlich gedeckt. Sie sind nicht wählerisch und fressen praktisch alles”, bestätigt Gerstgrasser. So gebe es etwa in Berlin tausende Wildschweine, die sich dort “pudelwohl” fühlten. Ebenso wie in Triest. “Europa wurde in den letzten Jahrzehnten regelrecht von Wildschweinen überrollt”, so der Wildbiologe. Dort, wo sich die Tiere explosionsartig vermehrt haben, sei es nirgends gelungen, sich der Ausbreitung der Tiere zu erwehren. “Es ist eine ganz schwierige Mission und auch uns wird es treffen.”


Lothar Gerstgrasser: “Das Wildschwein hat es fast überall gut.” Foto: jagd.it

Südtirol ist ein durchaus attraktives “Einwanderungsland” für die Tiere: “Im Grunde bieten all unsere landwirtschaftlichen Flächen und Wälder ein für Wildschweine ideales Nahrungsangebot”, sagt Gerstgrasser, “was aber ein Riesenproblem vor allem für die Landwirtschaft mit sich bringt”. Haben Wildschweine einmal die Witterung aufgenommen, gibt es kein Halten mehr. Sie wühlen sich in den Boden und graben auf ihrer Suche nach Nahrung die Erde um. Zurück bleiben meist tiefe Löcher, ausgerissene Pflanzen und leergefressene Felder. “Zwei, drei Wildschweine, die über zwei Nächte auf einer Wiese wüten, können gewaltige Schäden anrichten”, weiß Gerstgrasser.


Mission Minimierung

Liegen diese Wiesen – wie viele in Südtirol – in einer Steillage, so bringt das zusätzliche Probleme mit sich. “In der Ebene ist es verhältnismäßig einfacher, die Wildschäden zu beheben. Im Gebirge ist der Aufwand für die Schadenbehebung um einiges größer.” Zum Teil in Handarbeit müssen die Löcher wieder aufgefüllt werden. Werden Bauern und ihre Felder über mehrere Jahre hinweg von Wildschweinen heimgesucht, ist der Frust vorprogrammiert. “Verständlich, dass sich manch einer irgendwann fragt, was soll ich da noch tun?”

Wildschwein-Schäden in der Lombardei: Vor wenigen Jahren rief ein Bauer aus Oneto eine Petition ins Leben, um die zuständigen Politiker zum Handeln gegen die Tiere aufzufordern.

Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, sind inzwischen in mehreren italienischen Regionen Einsatzpläne ausgearbeitet worden, um, wie etwa in der Toskana, der “Plage” Wildschwein beizukommen. Auch auf europäischer Ebene gibt es in jedem Land dasselbe Ziel, sagt Gerstgrasser: “Die Wildschweinpopulation eindämmen.” Hierzulande sind es in erster Linie Jagdaufseher, Forstbeamte und Jäger die sich darum kümmern, den Wildschweinbestand “auf einem geringstmöglichen Niveau zu halten”, wie es der Wildbiologe beim Jagdverband beschreibt. Auch die vier Wildschweine haben ihren Kurzbesuch Ende Juli im Pustertal nicht überlebt. “Die Tiere sind allesamt erlegt worden”, informiert Landesrat Schuler.

Will ein Jäger nach dem Abschuss das Fleisch eines Wildschweines weiterverarbeiten, ist übrigens größte Vorsicht geboten. Weil die Tiere Allesfresser sind, kann es vorkommen, dass sie von Parasiten befallen sind, die für den Menschen schädlich sind. Daher gilt für Wildschweinfleisch: Bevor es auf den Tisch kommt, muss das Tier vom Tierarzt untersucht werden.

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martin hilpold Tue, 08/16/2016 - 14:57

Das Wildschwein war bis ins Mittelalter in Südtirol verbreitet, wurde dann aber ausgerottet. Wie Bär, Wolf, Elch, Marderhund usw. ist es eine Tierart, deren Verbreitungsgebiet sich heute ausdehnt.
Wildschweine dürfen in Südtirol ganzjährig gejagt werden, obwohl es sie gar nicht ganzjährig gibt.
Vor einer Wildschweinplage wie in Berlin und anderen Gegenden, wird man sich hierzulande deshalb nicht fürchten müssen.

Tue, 08/16/2016 - 14:57 Permalink