Ein schmerzloser Tod?
„Reisende und Wissenschaftler hatten das Matterhorn aus der Ferne betrachtet, doch nie davon zu träumen gewagt, es zu besteigen. Warum nicht? Weil es kein Berg war, sondern ein Felsen, der größte Felsen der bekannten Welt, welcher der Menschheit durch seine erhabene Pracht und seine steilen Hänge trotzte.“ So beschreibt der schottische Autor Fergus Fleming in seiner schlicht Nach oben betitelten Geschichte des Alpinismus das Objekt gipfelstürmerischer Begierde: „Im Winter waren seine Wände von lockerem Schnee bedeckt, im Sommer wurde der Schnee zu einem Lack aus schwarzem Eis.“
Das Matterhorn also doch unbezwingbar? Nicht für Whymper!
Hoch wollten sie trotzdem. Seit 1857 wurden immer wieder Kraxelversuche unternommen – allesamt vergeblich. Auch ein junger Engländer, 1840 im flachen London geboren, war gescheitert, wenn auch äußerst knapp. Ganze 430 Meter unterhalb des Gipfels musste Edward Whymper aufgeben. Doch das schien nicht das Schlimmste. Beim Abstieg geriet Whymper ins Straucheln. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, "dass dieses Springen durch den leeren Raum mir nicht unangenehm war. Ich denke mir“, zitiert ihn Fleming weiter, „dass ich nicht mehr tief zu fallen brauchte, um Bewusstsein und Empfindung gänzlich zu verlieren, und darauf stütze ich meine Behauptung, die vielen als unhaltbar erscheinen mag, dass der Tod durch einen Fall von großer Höhe ein so schmerzloses Ende ist, wie es nur eines geben kann."
Zumindest hatte der Berg seine abschreckende Wirkung auf den damals 22-Jährigen eingebüßt. Was lag näher, es im folgenden Jahr wieder zu versuchen? Whympers Ehrgeiz, „den Berg so lange zu belagern, bis er oder ich besiegt war“, ließ ihm keine Ruhe. Vor allem, nachdem ein Landsmann es noch weiter hinauf als er geschafft hatte: John Tyndall, Brite, in Irland geboren, war seinem Konkurrenten offenbar nicht nur körperlich überlegen. Der um zwanzig Jahre Ältere blickte bereits auf eine erstaunliche Karriere als Physiker zurück. Das Urteil des knapp um den Gipfelruhm gekommenen muss wie Musik in Whympers Ohren geklungen haben. Tyndall war, schreibt Fleming, bis auf einen Steinwurf an den Gipfel herangerobbt, doch sei es unmöglich gewesen, eine letzte Rinne, einen letzten Riss im Fels zu überqueren, sodass der komplett Erschöpfte künftig auf jeden weiteren Versuch zu verzichten gelobte.
Das Matterhorn also doch unbezwingbar? Nicht für Whymper! Er versuchte es drei weitere Male, und die einzig gute Nachricht war jeweils, dass er dem vermeintlich schmerzlosen Ende nie wieder so nahe kam als bei seiner Premiere. Das sollte sich erst am 14. Juli 1865 ändern. An der Spitze einer siebenköpfigen Gesellschaft bezwang Whymper, von Zermatt aus startend, tatsächlich als erster Mensch den bekanntesten Schweizer Berg.
Eher reißerisch und ganz ohne satirischen Anstrich fiel die filmische Bearbeitung des Stoffs durch Luis Trenker in Der Berg ruft von 1938 aus.
Beim Abstieg ereignete sich die Tragödie. Der Unerfahrenste der Gruppe, der 19-jährige Engländer Douglas Hadow, rutschte bei seiner zweiten Alpenklettertour überhaupt aus und riss drei an ihn geschnallte Kameraden mit sich in den Abgrund. Bei dem Sturz ging auch das Seil entzwei, das alle sichern sollte. "Einige Sekunden lang", erinnerte sich Whymper, "sahen wir unsere unglücklichen Gefährten auf den Rücken niedergleiten und mit ausgestreckten Händen nach einem Halt suchen. Noch unverletzt kamen sie uns aus dem Gesicht, verschwanden einer nach dem anderen und stürzten von Felswand zu Felswand auf den Matterhorn-Gletscher in eine Tiefe von beinahe 4000 Fuß hinunter."
Der Illustrator Gustav Doré hielt das Ereignis in seiner berühmten gewordenen Lithografie-Serie fest. An den folgenden Tagen fand man die verstümmelten Leichen der Abgestürzten. Whymper und die beiden einheimischen Führer, Peter Taugwalder und sein Sohn gleichen Vornamens, überstanden Auf- und Abstieg unverletzt. Gleichzeitig mit Whympers Trupp hatte sich eine Expedition unter Jean-Antoine Carrel, bei einem früheren Versuch noch Whympers Kollege, jetzt erbitterter Konkurrent, von italienischer Seite daran gemacht, das Matterhorn zu besteigen.
Vor 110 Jahren, am 16. September 1911, starb Edward Whymper in Chamonix, im Bett. Ob sein Ende schmerzlos war?
Später lieferte das anglo-französische Duell Felix Gasbarra die Vorlage für sein Hörspiel Fahnen am Matterhorn. Die Erstausstrahlung erfolgte 1931. Auch wenn das Stück in Whympers triumphaler Fahnenhissung gipfelte und auch die Tragik beim Abstieg nicht verschweigt, war die Handschrift des politisch-avantgardistischen Regisseurs deutlich zu erkennen: Gasbarrra „ging die Bergbesteigungs-Manie satirisch an“, attestiert ihm Jürgen Thöming, Professor für Neuere und neueste Literatur sowie Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Vechta: „Die Täuschungsmanöver des nationalistischen Wettstreits, die Todesopfer, der fehlende gesellschaftliche Nutzen werden realistisch ins Bild gebracht.“ Eher reißerisch und ganz ohne satirischen Anstrich fiel die filmische Bearbeitung des Stoffs durch Luis Trenker in Der Berg ruft von 1938 aus.
Nach dem Matterhorndrama bezwang Whymper weitere Berge, darunter als erster offiziell Anerkannter den Chimborazo in den ecuadorianischen Anden. Noch während seiner aktiven Zeit schuf er sich mit der Schriftstellerei ein zweites Standbein. Die Vermarktung seiner Erfolge bescherte ihm neben einer stetig steigenden Lesergemeinde vor allem ein rapides Wachstum seiner Barschaft. Bezahlen musste er die Popularität mit sinkenden Sympathiewerten unter Kletterkollegen. Vor 110 Jahren, am 16. September 1911, starb Edward Whymper in Chamonix, im Bett. Ob sein Ende schmerzlos war? Jedenfalls war es einsam, denn Englands wohl berühmtester Alpinist seiner Zeit, dem man die Schuld am Matterhorn-Unglück gegeben hatte, besaß kaum noch Freunde.