Fratello minore
salto.bz: Sie haben sich in Ihrem neuen Buch der Figur Peter Brasch genähert. Warum Peter Brasch?
Stefano Zangrando: Erstens: Peter Brasch wird nur an zwei Stellen im Buch als solcher genannt: Im Zitat gleich am Anfang und in der Notiz auf der letzen Seite. Ansonsten ist immer nur von „Peter B.“ die Rede. Das heißt, aus Peter Brasch wurde im Buch, nein, in diesem Romanessay eine literarische Figur gemacht, die sich zwar viel vom Original geliehen hat, doch nicht ganz mit diesem übereinstimmen mag.
Frei, rebellisch, konsequent – und ausschweifend, stets dem Scheitern nah.
Ich habe ihn nicht persönlich kennengelernt, den Brasch. Dafür bin ich in Berlin mit Menschen befreundet, die ihn sehr gut gekannt, ja geliebt haben und von ihm geliebt wurden, und das ist der Grund, warum ich auf ihn gekommen bin. Sei hier mindestens Rosemarie L. erwähnt, die jahrelang meine Gastgeberin war und gelegentlich immer noch ist: Sie hat mir immer wieder von diesem Familienfreund erzählt, denn sie wusste, dass ich auch Literaturschaffende bin und mich für deutsche Literatur interessiere. Eines war mir schon von Anfang klar: Diesem Peter war es aus persönlichen und historischen Gründen nicht gelungen, sich als Autor richtig zu behaupten. Vor vier Jahren habe ich dann endlich Texte von ihm gelesen und geglaubt, eine ästhetische wie auch existentielle Verwandtschaft zu spüren. Und plötzlich wollte ich ihn aus dem Vergessen verhelfen, und zwar mit den Mitteln eines Autors und Literaturvermittlers zugleich: Romankunst, Kritik, Übersetzung. Entstanden ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung, die sich aber auch sachliches Werkzeugs bedient.
Sie sind Übersetzer, haben lange in Berlin gelebt und übersetzen nun ein deutsches Schriftstellerleben in italienische Sprache. Ist das europäische Literatur was Sie da betreiben? Seien Sie ehrlich.
Schön wär‘s. Weil wir uns aber hier, also bei Peter und mir, eher im Gestrüpp der großen europäischen Literatur bewegen – der Titel Fratello minore weist ja auch darauf hin, auf das „minore“-sein, also ein wenig bedeutender Autor – würde ich das ehrenvolle Schild lieber weglassen und sagen: Was ich hier versucht habe, ist das Vermitteln eines literarischen Tuns und einer besonderen Art und Weise, als Sprachkünstler zu leben, und zwar frei, rebellisch, konsequent – und ausschweifend, stets dem Scheitern nah.
Peter Brasch hatte mehrere Geschwister, allesamt Kulturschaffende. Am Leben ist aber nur noch eine Schwester, die am wenigsten mit Kultur am Hut hatte und heute zu ihren Brüdern Auskunft gibt. Was weiß man über das frühe Ableben der Brüder?
Hier muss ich Ihnen widersprechen. Marion Brasch, früher nur als Radiomoderatorin bekannt, mag damals als die wenig bekannte Schwester der drei wilden Brasch-Brüder gegolten haben, sie ist aber mittlerweile eine beliebte Autorin, die teils die ästhetische Erbe ausgerechnet von Peter übernommen und sich aufs Originellste erarbeitet hat. Ihr verdanke ich übrigens nicht nur den Zugang zu Peters Nachlass im Archiv der Berliner Akademie der Künste, sondern überhaupt die Tatsache, dass sie in ihrem ersten Buch von ihrer Familie erzählt hat: Ohne diesen Familienroman und den Gesprächen mit ihr wäre ein ganzer Teil meines Buchs nicht zustande gekommen. Und naiv ist Marion Brasch auch nicht: In ihrem Roman beansprucht sie auf keinen Fall das Monopol der Wahrheit über ihre Brüder, sondern gibt einfach ihre subjektive und zum Teil erfundene Version, wie es ja der Erzählkunst gehört. Dabei wirkt das, was sie über ihre Brüder sagt, angeblich wahrhaftig auf diejenigen, die sie gekannt haben: Die Literatur erforscht nämlich die existentielle Wahrheit der Menschen vielmehr als die biographische, egal also, wie wahrheitsgetreu die Ereignisse sind, die man erzählt. Und das gilt auch für Fratello minore.
Die Familie Brasch wird oft als die Mann-Familie des Ostens beschrieben. Was ist da Wahres dran? Oder ist es nur eine gute Schublade?
Da habe ich nicht viel zu sagen, sollten Sie doch Marion Brasch fragen… „Die Buddenbrooks des Osten“, das klingt sowieso wie ein Werbespruch, den sich manche Feuilletonisten erdacht haben, um diese Familiengeschichte pauschal zu verkaufen. Trotzdem ist diese von den Braschs eine ganz besondere deutsche Geschichte, weil in ihr das Historische und das Private geradezu einmalig zusammentreffen. Dabei ging es mir, als ich das Buch über Peter konzipiert habe, nicht um die Familie Brasch, sonder um einen Menschen und wenig bekannten Schriftsteller, in dessen Freundeskreis ich zufällig gelandet bin, und um jemanden, in dem ich eine Art Bruder zu erkennen glaube, einen Bruder „im Geist“ sowie „im Schicksal“. Teile seiner Familiengeschichte kamen dann notwendigerweise als Erzählstoff ins Spiel.
Seit einiger Zeit lebt und bebt nun ein Doppelgänger von ihm in den Seiten eines Romans in italienischer Sprache.
Es gibt nun auch einen Kinofilm zu den Braschs...
Ich habe ihn gesehen, fand ihn gut, ziemlich konventionell aber sauber gemacht, nur bin ich nicht vom Hocker gefallen: Mir war nach drei Jahren eigener Recherchen schon fast alles bekannt. Außerdem überragt die Figur von Thomas Brasch, dem berühmten ostdeutschen Dichter, mehr oder weniger unvermeidlich alle anderen Familienmitglieder – bis auf Marion, die im Film als noch lebenden und gewissermaßen distanzierten Kontrapunkt zum Ganzen steht. Von Peter, der schon zu Lebenszeit am Schatten des großen Bruders genug gelitten hat, erfährt man da sehr wenig, darunter seltsamerweise etwas, was ich während meiner Recherchen gebeten wurde zu verschweigen. Darüber möchte ich aber jetzt nicht sprechen.
Was bleibt von Peter Brasch? Ein Schattendasein, im Lichte seiner Brüder?
Peter Brasch war zwar kein „großer“ Autor, das kann man nicht leugnen – er hat das ja auch selber gewusst. Er war aber ein talentierter, politisch und ästhetisch bewusster Schriftsteller. Und er war trotz der Alkoholsucht, die ihm das Leben schwer gemacht hat, ein freier und leidenschaftlicher Mensch, der vermochte, bis zu seinem letzten Lebenstag treu zu sich selbst und zu seinen Geliebten zu bleiben. Was auch immer von ihm bleibt – ich kann nur sagen, das war bis vor kurzem nur im deutschen Sprachraum zu finden. Seit einiger Zeit lebt und bebt nun ein Doppelgänger von ihm in den Seiten eines Romans in italienischer Sprache. Darüber würde er sich bestimmt freuen, und diese Vorstellung macht mich auch glücklich.