Migranti
Foto: upi
Society | Migrantenproblem

Invasion im Mittelmeer?

Kein Tag ohne neuen Streit um Migranten. Frankreichs Präsident Macron hat nun die Grenzen geschlossen. Andere Länder könnten schon bald folgen.

Es war einmal mehr Italiens 81-jähriger Staatspräsident Luigi Mattarella, der das Land  in diesen Tagen  vor einer veritablen politischen Krise bewahrt hat. In einem langen Telefongespräch mit seinem französischen Kollegen Emmanuel Macron gelang es ihm, dessen Wut über die Flüchtlingsschiffe zu dämpfen und zum Dialog zwischen beiden Ländern zurückzukehren. Der Konflikt bleibt jedoch nicht ohne Folgen. Ein Grossaufgebot französischer Polizisten ist bereits an der gemeinsamen Grenze in Ventimiglia eingetroffen und kontrolliert dort nicht nur akribisch die Passagiere der Züge und den Autoverkehr, sondern auch die grüne Grenze im Hügel- und Bergland dahinter. Erklärtes Ziel der Aktion: kein einziger unbefugter Migrant soll dort in Zukunft französischen Boden betreten. Italiens ultrarechter Senatspräsident Ignazio la Russa legte flugs noch eins drauf: Macron sollte anerkennen, dass "il governo italiano ha fatto bene a tenere la barra dritta su migranti e Ong" - eine eher surreale Behauptung, die einmal mehr offenlegt, wie sehr bei diesem Thema politische Propaganda im Vordergrund steht. Italiens Innnenminister nannte am heutigen Mittwoch erstmals konkrete Zahlen: im laufenden Jahr seien vom 1. Jänner bis 9. November 21.046 Migranten registriert worden - ein neuer Rekord. Dann kündigte er einen "cambio di passo per una nuova politica a livello europeo sulla gestione dei Fluss migratori" an. Einzelheiten dazu nannte er nicht.

Für den jüngsten Riss quer durch Europa und heftige Polemiken sorgen vor allem jene Schiffe von NGOs wie die Humanity der gleichnamigen Organisation, die Migranten aus dem Meer bergen und in naheliegende Häfen bringen. Dazu gehört auch die Geo Barentder Vereinigung Ärzte ohne Grenzen. Und jenes Rettungsschiff Ocean Viking, dessen Anlegen im Hafen von Toulon Macron Wutanfall auslöste.

 

Für Italiens Innenminister Matteo Piantedosi, der auf eine Beschlagnahme dieser Schiffe abzielt, ist in jedem Fall das Land zuständig, unter dessen Flagge sie fahren - in diesen beiden Fällen Deutschland. Die Regierungen der Mittelmeerländer wie Italien, Griechenland, Zypern und Malta fordern von der EU eine diesbezügliche Entscheidung bzw. eine Neuauflage der Massnahmen, die Salvini 2018 als Innenminister der Regierung Conte durchgesetzt hatte. Dazu gehört eine Geldstrafe von 50.000 Euro für Schiffe, die ohne entsprechende Genehmigung italienische Häfen anlaufen. Vom Flüchtlingsproblem ist jedoch keineswegs nur Italien betroffen. Im Ärmelkanal etwa wurden im laufenden Jahr bereits fast 40.000 Migranten identifiziert. Auch Mitglieder der britischen Regierung kritisieren, England biete Einwanderern zu viele Anreize. "Hotel Britannia" müsse ein Ende finden. Die neue Innenministerin Suella Bravo sprach von "Invasion". Ein Drittel der Einwanderer in Richtung London sind Albaner. Darunter seien zahlreiche Kriminelle - so die britische Polizei.

Nach Schätzungen der Guardia di Finanza befinden sich in italienische Hoheitsgewässern derzeit fast 1000 Migranten, die auf Hilfe warten. 

Nach Schätzungen der Guardia di Finanza befinden sich in italienischen Hoheitsgewässern derzeit fast 1000 Migranten, die auf Hilfe warten - 350 davon vor Siracusa und 25 Meilen vor Pacino. Bei diesen Schiffen handle es sich meistens um ausgediente Fischkutter aus Ägypten und Syrien, die mit bis zu 500 Personen hoffnungslos überfüllt seien. Auch libysche Schleuserbanden sind seit Jahren im südlichen Mittelmeer aktiv. In Tunesien und Ägypten gibt es eine zudem eine wachsende Zahl von kriminellen Schlepperbanden, die an den Gewinnen teilhaben möchten. Allein im laufenden Jahr wurden in Italien über 92.000 Flüchtlinge registriert - ihre Zahl hat sich in drei Jahren verdreifacht. Rom hat der EU nun eine Art Marshall-Plan für Nordafrika vorgeschlagen, in dessen Rahmen fast 100 Milliarden Euro im Norden des schwarzen Kontinents investiert werden sollen, um die Auswanderung zu reduzieren.

Aussenminister Antonio Tajani: " Serve una soluzione europea: tutti i miei collleghi mi sono sembrati convinti della necessità di trovare a livello UE una risposta al dossier migrazioni." Doch gerade darin liegt ein Teil des Problems - dass die Staaten bisher kaum gemeinsam gehandelt haben und jeder auf eigene Faust versucht, seine Probleme zu lösen. Den zwischen Meloni und Macron ausgebrochenen Streit hat Staatspräsident Mattarella nun mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit und Logik geschlichtet. Doch der Fall demonstriert einmal mehr, wie jeder auf eigene Interessen bedacht ist und gemeinsamen Aktionen oder globalen Lösungen kritisch gegenübersteht. Dahinter verbirgt sich die (verständliche) Logik, dass in der EU fast jeder Flüchtlinge los werden und keine neuen aufnehmen will.

Doch der Migrantenstrom ist längst zu einem globalen Problem angewachsen, von dem mittlerweile viele Länder betroffen sind - von Polen bis Kroatien und von Marokko bis Griechenland. Die Ursachen sind fast immer dieselben - Armut und Hoffnung auf ein besseres Leben. Die freilich erfüllt sich nur in seltenen Fällen. Die Voraussetzungen in den EU-Ländern sind unterschiedlich. Und Italien findet sich in einer zweifellos ungemütlichen Lage: es weist die niedrigste Geburtenrate der EU auf und die Überalterung der Bevölkerung wächst problematisch von Jahr zu Jahr. Mit anderen Worten: nur Migranten können die Zukunft der Halbinsel gewährleisten.

 

Bild
Profile picture for user Dietmar Nußbaumer
Dietmar Nußbaumer Wed, 11/16/2022 - 18:46

Da kann man Tajani nur beipflichten, es braucht eine funktionierende europäische Lösung. Interessant nur, wenn sich Italien gegen zu viele Migranten wehrt, dann zeigen alle mit dem Finger auf Italien, selbst wirklich helfen wollen die meisten aber nicht. Scheinheiliger geht's wohl nicht mehr.

Wed, 11/16/2022 - 18:46 Permalink
Bild
Profile picture for user Karl Trojer
Karl Trojer Thu, 11/17/2022 - 11:12

"Rom hat der EU nun eine Art Marshall-Plan für Nordafrika vorgeschlagen, in dessen Rahmen fast 100 Milliarden Euro im Norden des schwarzen Kontinents investiert werden sollen, um die Auswanderung zu reduzieren." Diese Initiative müsste unverzüglich und zielgerecht umgesetzt werden.
Dabei bleibt die Pflicht für uns, die wir in Sicherheit leben können, jene nicht ertrinken zu lassen, die Soforthilfe brauchen. Europa muss hierin solidarisch werden, will es weiterhin als Wertegemeinschaft anerkannt werden.
Es wäre wertvoll, über eine Auflistung von europäischne Gemeinden zu verfügen, die sich bereit erklären, eine jeweils gewisse Anzahl an Flüchtligen bei sich aufzunehmen und sie gegebenenfalls auch zu integrieren.

Thu, 11/17/2022 - 11:12 Permalink
Bild
Profile picture for user △rtim post
△rtim post Thu, 11/17/2022 - 11:54

Mattarella weiß offenbar noch, Italien hat Frankreich fast alles zu verdanken. Selbst den eigenen unabhängigen it. Staat im Jahr 1861. Oder auch bislang bei europäischen Hilfsgeldern, Schuldenvergemeinschaftung ...
Dass Macron, der Italienisch spricht und auch sonst ein großer Freund Italiens ist, politisch nun reagieren musste, nachdem die Ocean Viking durch plumpe Falschmeldungen der it. Regierung nach Toulon umgeleitet wurde, ist klar. Ebenso, dass Frankreich als Reaktion, die freiwillige Ausnahme von 3.000 Geflüchteten aus Italien, nun ausgesetzt hat.
Aber das Meloni-Italien gratuliert sich ja am liebsten selbst.

Thu, 11/17/2022 - 11:54 Permalink