Society | Flüchtlinge

Geschichten aus den Bergen

„Menschlichkeit ist kein Verbrechen“, sagen die einen in Breil. „Verteidigen wir uns mit Händen und Füßen“, sagen die anderen in Corvara.
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profughi
Foto: santegidio.org

Villa al Sole, St. Ulrich, Gröden

Das Haus hat einen schönen Namen: Villa al Sole, Haus in der Sonne. Und jetzt hat es außer seinem schönen Namen auch einen echten Mehrwert: Hier wohnen 25 afrikanische Flüchtlinge. Der Besitzer ist ein Mensch, der es ernst meint mit seiner sozialen Verantwortung. Er ist auch ein Mensch, der sich auskennt mit Gastlichkeit, denn das ist sein Beruf. Und jetzt hat er sein eigenes Haus für eine Form der Gastlichkeit geöffnet, die Synonym ist für echte Aufnahme. Ganz schön mutig heutzutage. Der Bürgermeister des Dorfes, dem es selbst ein großes Anliegen ist, nicht locker zu lassen und die Werte und Pflichten gegenüber unseren Mitmenschen hochzuhalten, dieser Bürgermeister also hat diesen Gastgeber von der ersten Minute an unterstützt und hat Machtworte gesprochen, wenn es nötig war. Das Dorf selbst wiederum hat nach anfänglicher Empörung, nach einer Unterschriftensammlung, nach mehr oder weniger konstruktiven Auseinandersetzungen und Diskussionen seine Position doch noch einmal überdacht. Und jetzt, exakt ein Jahr nach der Ankunft der Flüchtlinge, wurde ein großes Fest gefeiert. Ein schönes Fest, ein Fest für alle. Mit Gesang und Musik, mit Essen und Kultur aus allen möglichen Ecken der Welt. Aber dort in St. Ulrich sind sie sich begegnet. Solidarität ist kein Trauerspiel, im Gegenteil! Sie ist nicht nur Quelle eines neuen Reichtums, sondern auch Quelle des Vergnügens und der Unterhaltung. Und ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe nämlich mitgefeiert.

Gemeinderat Corvara, Abteital

Die Gemeinde teilt mit, dass angesichts der von Einwanderern auf nationaler und provinzialer Ebene hervorgerufenen schwierigen Situation etwas getan werde müsse. Im Sinne, dass man die Einwanderer absolut fern halten müsse von Corvara. Es sei undenkbar, dass man sich hier um welche kümmern könne, im Gegenteil, man werde sich „mit Händen und Füßen verteidigen, denn die große Mehrheit sind ja gar keine Flüchtlinge und außerdem kulturell viel zu verschieden von uns, weshalb Sicherheit, Sauberkeit und Image von Corvara leiden würden.“ Wortwörtlich. Die Gemeinde Corvara glaubt einzig und allein an den Schnee, den wunderbar weißen Schnee, wie man ihn sich weißer gar nicht wünschen kann. Ansonsten sieht sie schwarz. Schwarz wie die Lieblingsfarbe jener, die vor wenigen Jahrzehnten noch mit erhobenem rechtem Arm durch das Land marschierten. Und wenn ein echter Schwarzer auftaucht, dann am besten ein paar Tritte in den Hintern und, wie seinerzeit die camice nere, ein bisschen mit Rizinusöl foltern... Was für ein heimeliges Plätzchen doch aus meinem Dorf Corvara geworden ist...

Breil, Roiatal, Frankreich

Gleich hinter der italienischen Grenze, auf der Südseite des Col di Tenda und in der einsamen, wunderschönen Berglandschaft der Seealpen, kümmern sich Hunderte von Einheimischen aus ein paar Dörfern des Roiatals um Frauen, Kinder und Männer auf ihrem Weg nach Nordeuropa. Sie nehmen sie auf, geben ihnen zu essen, versorgen sie mit Kleidern und teilen mit ihnen das wenige, was sie besitzen, so dass es zu großem Reichtum wird. Was sie tun, ist gegen das Sarkozy-Einwanderungsgesetz. Wer illegale Einwanderer bei sich zu Hause versteckt, riskiert den Knast. Das Ganze mutet an wie ein Film aus dem vergangenen Jahrhundert, ist aber die Wirklichkeit von heute. Diese Leute helfen, weil man, wie sie mit der bescheidenen Stimme echter Bergbewohner behaupten, „etwas tun muss für Menschen, die alles verloren haben. Menschlichkeit ist kein Verbrechen.“ Man muss übrigens dazusagen, dass seit 2015 Tausende von Flüchtlingen durch diese Täler gekommen sind, um den Kontrollen durch die französische Polizei zu entgehen.

Aus diesen drei Geschichten, die ich aus Platzgründen auf ein Minimum reduzieren musste, lassen sich ganz unterschiedliche Überlegungen ableiten. Ich möchte hier nur auf die hinweisen, die mit der Erinnerung zu tun hat: Die Franzosen aus dem Roiatal sagen, dass sie schon immer „so“ gewesen seien und vor hundert Jahren auch schon den Italiener geholfen hätten, die auf der Suche nach Arbeit nach Marseille zogen. Ich würde mich freuen, wenn auch meine ladinischen Brüder einmal darüber nachdenken würden, wie es ihnen noch vor einem Jahrhundert ergangen ist und wie es war, als zahlreiche weggingen aus den Bergen, um ihr Glück zu machen.  Ich habe ganz bewusst den Ausdruck weggehen statt emigrieren benützt, um die Sensibilität (?) meiner Landsleute nicht zu verletzen. Doch letztlich überlasse ich es dem Leser, die Schlussfolgerungen zu ziehen, die er für richtig hält – weiß ich doch, dass es Hoffnung gibt, so lange die Erinnerung anhält. Erst wenn alle die Augen schließen, sich die Ohren zuhalten und das Gehirn ausschalten, fängt der Ärger an.