Politics | Geht es vor allem ums Methan?

Tod in Kairo, die These vom Komplott

Man hört, beim Mord an Giulio Regeni gehe es in Wahrheit um ein "viel größeres Spiel". Aber Regeni ist tot, und sein Tod verlangt nach Aufklärung.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Inzwischen sind noch mehr Einzelheiten über Giulio Regeni bekannt geworden, welche die These, dass er zum Opfer ägyptischer Geheimdienste wurde, unterstützen. Nicht nur dass die ägyptische Polizei seine Wohnung schon drei Tage vor seinem Verschwinden durchsucht hatte und er auch noch mit Elektroschocks bearbeitet wurde, bevor man ihm das Genick brach. Sondern auch über das, was er als junger Forscher tat.

Ein Forschungsinteresse, welches das Regime herausfordert

Seine Heimatuniversität war Cambridge, wo seine Forschungsarbeit von den Professorinnen Abdelrahman und Alexander betreut wurde. Maha Abdelrahman war seine Tutorin, und sie berichtet, dass sich zuletzt das „Format“ seiner Arbeit über die ägyptischen Gewerkschaften veränderte: Es ging nicht mehr nur um die Analyse allgemein zugänglicher Quellen, sondern auch um die „teilnehmende Beobachtung“ ihres Handelns. Regenis zweite Cambridger Bezugsperson, Anne Alexander, könnte bei den Geheimdiensten noch mehr Alarm ausgelöst haben. Ihr Spezialgebiet ist Syrien und Ägypten, und zu ihrem Forschungsprofil gehört es, die „Nutzung digitaler Plattformen und Mobilisierungsinstrumente im Netz“ zu untersuchen, und zwar „durch Bewegungen, die im Nahen Osten eine politische Veränderung anstreben, um ‚neue Räume des ‚Dissidententums‘ zu eröffnen und ‚neue Kulturen des Aktivismus‘ zu schaffen“. Dies dürfte auch im Fokus von Regenis Forschung gestanden haben.

Tahrirplatz 2011

Tahrirplatz 2011

Kombiniert man es mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung, und unterstellt man, dass die Geheimdienste davon Wind bekamen, kann man sich ihr Interesse an Regenis Person und an seinen Kontakten vorstellen. Regenis Forschung traf einen Nerv des Regimes: das Rebellionspotenzial der schmalen Intellektuellenschicht, die es in Ägypten in den großen urbanen Zentren gibt, welches dem Militär-Regime seit 2011 wohlbekannt ist. Zwar hat die spätere Entwicklung gezeigt, dass ihr Einfluss auf die Gesamtgesellschaft immer noch gering ist. Trotzdem ist es für das Regime zur obsessiven „Religion“ geworden, sie von nun an unter Kontrolle zu halten.

Die Gegenthese: ein „Komplott“

An diesem Punkt kann man sagen: Alles deutet darauf hin, dass Regeni ein Opfer des Militär-Regimes ist. Zumal die Blutspur, die es hinter sich herzieht, ja schon breit ist.

Nun gibt es jedoch eine Gegenbehauptung, die, wenn sie wahr wäre, alles auf den Kopf stellt. Es ist die These vom großen „Komplott“. Indirekt deutete sie schon der ägyptische Botschafter in Rom an, als er sagte: „so naiv wären wir nicht“ (s. das PS im „Tod in Kairo“). Sie beginnt mit einer Plausibilitätserwägung: War es wirklich nur ein böser Lapsus von Regenis Mördern, dass sie seine Leiche in dem Moment auffinden ließen, als die italienische Entwicklungsministerin Guidi mit einer großen Delegation italienischer Unternehmer Kairo besuchte? Es musste die Wirtschaftsverhandlungen stören – was wäre, wenn dies gerade die Absicht war? Für die Verfechter der „Komplott“-These ist die Antwort klar, insbesondere wenn man berücksichtigt, um welche fette Beute es gegenwärtig in den italienisch-ägyptischen Beziehungen geht: um Zhor, das größte Methangas-Lager, das bisher im Mittelmeer vor der ägyptischen Küste entdeckt wurde und das nach den bisherigen Plänen von einem agyptisch-italienischen Konsortium (ENI!) ausgebeutet werden soll. Demzufolge wäre also Regeni umgebracht worden, um dieses Abkommen zu unterminieren, und zwar unter Nutzung des schlechten Ansehens Al Sisis in der Welt und zynischerweise auch der westlichen Menschenrechtsbewegung, speziell in Italien. In Wahrheit gehe es also um Geopolitik. Dass es ein ägyptischer Geheimdienst war, der Regeni umbrachte, wird damit nicht in Frage gestellt. Unter diesen Geheimdiensten gebe es Konkurrenz und unterschiedliche Interessen (auch gegenüber dem Al Sisi-Regime, wie hilfsweise nachgeschoben wird). Die Frage, welche ausländischen Interessen über sie ins Spiel kommen, öffnet der Spekulation ein weites Feld.

Die Frage nach dem cui bono

Das Perfide an der „Komplott“-These ist das ökonomische cui bono, die Frage, wem es nutzt, die damit in den Fall eingeführt wird. Wer den ägyptischen Geheimdiensten die Schuld gibt, gehe denen auf den Leim, die „in Wahrheit“ das Abkommen über das Erdgas von Zhor boykottieren wollen. Wer sie entlastet, wolle „in Wahrheit“ das Abkommen retten. Die italienisch-ägyptische Untersuchungskommission, die in Kairo zur Zeit den „Fall Regeni“ untersucht, erschien zunächst als Konzession an Italien, das nicht einfach hinnehmen kann, dass in Ägypten ein italienischer Staatsbürger zu Tode gefoltert wird. Jetzt wird schon darauf gewettet, dass das Untersuchungsergebnis das Militär-Regime entlasten wird – weil ja beide Seiten das gleiche Interesse hätten, nämlich das Zhor-Geschäft zu retten.

Als vorerst einzige Gewissheit bleibt die Leiche von Giulio Regeni, der offensichtlich auf qualvolle Weise umgebracht wurde und, solange er lebte, ein kluger und fröhlicher Mensch war. In Italien ist eine Petition im Umlauf, die Klarheit über die Umstände von Regenis Tod fordert. Aus England hört man, dass unter den dortigen Akademikern Unterschriften für einen Appell an das britische Parlament gesammelt werden, in dem dieses die Durchführung einer wirklich „unabhängigen und unparteiischen“ Untersuchung des Todes von Regeni fordern soll. Man möchte sich dieser Forderung anschließen. Auch im Bewusstsein, dass der „cui bono“-Verdacht über jedem Ergebnis schweben wird.