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La Grande Linea

Verkehrstechnische Funde aus dem Archivio Centrale dello Stato zeigen Parallelen zur Gegenwart: Grenzübergangsverbote, alpiner Tourismus, gigantische Infrastrukturbauten.
Brenner
Foto: Brenner

Aus aktuellem Anlass sind die Worte Grenzübergangsverbot, Tourismus und Infrastruktur in aller Munde. Aber vor rund 100 Jahren waren wir, zumindest was die Bedeutung dieser drei Worte anbelangt, in einer ähnlichen Situation, obwohl der Hintergrund und die Voraussetzungen ganz andere waren.


In der Zwischenkriegszeit wollte man das neu annektierte Land Südtirol mit Italien verbinden. Der Tourismus sollte einerseits als wirtschaftliche Ressource, anderseits als Hilfsmittel dazu dienen, das Land zu nationalisieren. Es begann eine ausgiebige Werbekampagne des Nationalen Amtes für Tourismus, des Ente Nazionale per le Industrie Turistiche (ENIT), um Südtirol italienischen Urlaubern schmackhaft zu machen. 1928 schrieb Mussolini dem Staatssekretär des Innenministeriums: «[…] dobbiamo approfittare di rivalorizzare il turismo in Alto Adige […].»

 

In Radiosendungen wurden die Dolomiten als die schönsten Berge der Alpen gepriesen und die Italiener wurden aufgerufen, die «Centri di sport invernali sulle bianche nevi Italiche» zu besuchen. Mussolini selbst drängte seine Landsleute 1930 in einer Radioansprache, die unter dem Titel Riduzioni ferroviarie per la Venezia Tridentina ausgestrahlt wurde, nicht ins Engadin zu fahren, sondern die Winterferien in Südtirol zu verbringen. Die Schweiz kannte Mussolini aus eigener Erfahrung: 1902 war er als 18-Jähriger, nachdem er an der damaligen LBA (Istituto Magistrale) das Diplom als Grundschullehrer in Italien erworben hatte, in die Schweiz geflohen, wo er sich anschließend zweieinhalb Jahre aufhielt. Dadurch entzog er sich der italienischen Wehrdienstpflicht. Er ließ sich in der Umgebung von Lausanne nieder, wo er als Bauhandwerker seine ersten Arbeitserfahrungen machte. Er knüpfte mit der italienischen Maurer- und Hilfsarbeitergewerkschaft (Sindacato Italiano muratori e manovali) von Lausanne Kontakte und Freundschaften. In Kürze wurde er ein geschätztes Mitglied; dank seiner sozialistisch-revolutionären Haltung wurde in der Zeitschrift L´Avvenire del Lavoratore sein erster Artikel publiziert.

 

In Lausanne verfasste er Manifeste, befürwortete den proletarischen Internationalismus und verbrachte seine Freizeit, parallel zu den verschiedenen Gelegenheitsarbeiten, in Gesellschaft von Gesinnungsfreunden der extremen Linken. In dieser Zeit hatte er die Schweizerische Eidgenossenschaft gut kennengelernt und wusste, dass es im Mailänder Großbürgertum zum guten Ton gehörte, seinen Urlaub in den Schweizer Bergen zu verbringen. Deshalb findet man in Briefen Mussolinis, in denen es um den Aufenthalt italienischer Touristen im Ausland geht, meistens Anspielungen gegen die Schweiz. Das Regime versuchte mit gezielter Werbung und diversen Maßnahmen, wie zum Beispiel einem für kurze Zeit eingesetzten Grenzübergangsverbots, das Mailänder Großbürgertum umzupolen. Anstatt nach St. Moritz und Pontresina sollten die Mailänder in die neuen Berge Südtirols gelockt werden.


Am 12. Juli 1926 verschickte das Büro des Regierungschefs ein dringendes Telegramm mit dem Titel «Maßnahme, die die Auswanderung für Landsleute verbietet, die sich eine Reise zur klimatischen Kur oder zum Vergnügen wünschen» an alle Präfekten des Königreiches. In der Benachrichtigung hieß es: «Ich bestimme, dass ab morgen keine Reisepässe und Reisekarten ausgestellt und verlängert werden. Eine Ausnahme gilt nur für jene Landsleute, die im Namen des Staates oder der Arbeit reisen. […] Ich weise darauf hin, dass jede Unsicherheit schwer bestraft wird. […] Der Regierungschef = Mussolini.»


Diese Maßnahme blieb weitgehend wirkungslos, denn sie galt nur für einige Tage. Wie man aus einer Korrespondenz zwischen Mussolini und dem Innenminister Luigi Federzoni ersieht, war die Angst zu groß, internationales Aufsehen zu erregen. Denn zeitgleich wurden in Südtirol die österreichischen und deutschen Sportvereine per Dekret verboten und nur ein halbes Jahr zuvor, am 1. Dezember 1925, waren die Verträge von Locarno mit Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Belgien unterzeichnet worden, die eine Verbesserung des Klimas in der westeuropäischen Diplomatie bewirken sollten.


Straßen- und Bahnbau für Südtirol. Um die zahlungskräftige Mailänder Bevölkerung nach Südtirol zu leiten, beschloss Mussolini eine neue Eisenbahnstrecke zwischen Mailand und Meran, direkt unter dem Stilfser-Joch-Pass und durch das Ortlermassiv hindurch, erbauen zu lassen. Am 8. Februar 1926 bestätigte der Minister Costanzo Ciano (1876–1939) in einem Brief an Mussolini, dass die Planung der Bahnstrecke durch Ingenieur Paolo Casiraghi (1898–1978), dem Direktor der Veltlineisenbahn, bereits abgeschlossen war, und wiederholte somit, welche Ziele das Regime mit dem Bau der Tunnelröhre verfolgte: «[…] Anliegen ist es, dass ein großer Anziehungspunkt wie Mailand seinen Einfluss auf die Bevölkerung Südtirols entwickeln könnte. Daher ist die Ausführung des Stilfser-Joch-Tunnels dringend notwendig […].» Auch sollten mehr Eisenbahnverbindungen Richtung Südtirol geschaffen werden, und, dies betonte Mussolini, «[…] wenn möglich, sollten direkte Züge von Genua, Mailand, Turin und Rom in Richtung Bozen und Meran eingerichtet werden».


Zusätzlich beschloss das Regime, eine Autobahn zwischen Mailand und Bozen zu erstellen, um die Italiener auf schnellstem Wege in die Südtiroler Berge zu führen. 1928 präsentierte der Ingenieur und Podestà Riccardo Cozzaglio (1895–1965) dem Ministerium für öffentliche Bauarbeiten das Vorhaben «La Grande Linea stradale Milano – Brennero». Aus der Projektbeschreibung, wie schon aus Dokumenten des Ministeriums von 1926, geht hervor, dass der Schwerpunkt dieses Anliegens darin lag, die wirtschaftlich starke Lombardei mit dem Gardasee, dem größten See Italiens, und anschließend mit Südtirol, das mit schönen Hotels ausgestattet war, zu verbinden. Von Cozzaglio wurde diese Straße in mehreren Streckenabschnitten erarbeitet, die zu verschiedenen Zeitpunkten hätten realisiert werden sollen. Der spektakulärste und komplizierteste Abschnitt am steilen westlichen Gardaseeufer, die Gardesana orientale, wurde schlussendlich ausgeführt. Das Straßenprojekt, das vom Ministerium für öffentliche Bauarbeiten schon am 12. Januar 1926 befürwortet und unter den «Maßnahmen, um Südtirol zu italianisieren», vermerkt wurde, wurde dann nicht vollumfänglich bis nach Südtirol umgesetzt.


Wie aktuell das Thema für Politiker, Städtebauer und Architekten, aber auch für ein breiteres Publikum war, erkennt man an einem im Corriere della Sera publizierten Artikel «Die grösste Pionierleistung einer Stadt» von Gio Ponti. Aus diesem von Ponti entworfenen und publizierten, jedoch nie realisierten Plan der Stadt Mailand wird ersichtlich, wie man in der «[…] nuova Milano di Mussolini» über den Corso Sempione, eine der wichtigsten Strassen Mailands, direkt via Autobahn den Weg Richtung Alpen, dem Stilfser-Joch hätte einschlagen können.