Society | Suchtkrankheiten

Zehn Stunden vor dem Computer

Die Glücksspielsucht ist bereits seit Längerem als Krankheit eingestuft, beim sogenannten „Gaming Disorder“ handelt es sich dagegen um ein relativ neues Phänomen.
Computerspiele
Foto: upi
Nachdem die WHO in ihren diagnostischen Manualen „Gaming Disorder“ offiziell als Krankheit anerkannt hat, ist die Landesregierung nachgezogen und hat kürzlich mit einem Beschluss die Computer-Spielsucht ebenfalls als Krankheit eingestuft. Damit können die Betroffenen die Gesundheitsleistung des Landes kostenlos in Anspruch nehmen.
„Wir wurden auf das Problem aufmerksam, weil sich effektiv immer mehr Eltern an uns gewandt haben“, erklärt Oskar Giovanelli, Psychologe und Psychotherapeut beim Verein „Hands Onlus“. Das Kompetenzzentrum für Abhängigkeitserkrankungen betreut Patienten, die von Alkohol, Medikamenten und pathologischem Glücksspiel abhängig sind. Die Eltern, die sich an den Verein gewandt haben, haben sich beispielsweise darüber geklagt, dass sich ihr Sohn zuhause aggressiv verhält oder die Tochter sich weigert, zur Schule zu gehen und ihre Zeit lieber vor dem Computer verbringt.
 
 
 
Jene Generation, die nach 2005 geboren wurde, ist mit den sogenannten neuen Medien wie Facebook oder Instagram aufgewachsen. Wie Giovanelli erklärt, unterscheidet sich ihre Wahrnehmung von der analogen und digitalen Welt erheblich von jener Generation, die noch im „analogen“ Zeitalter aufgewachsen ist. „Es fällt ihnen schwerer zu unterscheiden, was wichtiger ist: das Internet oder die reale Welt?“, bringt der Psychologe das Problem auf den Punkt, das vermehrt zu Konflikten in den Familien führen kann. 2018 sei man auf den Plan getreten und habe das Projekt „Young Hands“ ins Leben gerufen, „weil es schlicht in ganz Südtirol niemanden gab, der sich um dieses Problem gekümmert hat“.
 
Was ist wichtiger: das Internet oder die reale Welt?
 
Durch die Pandemie, die Südtirol in den vergangenen zwei Jahren fest im Griff hielt, hat sich das Phänomen verschlimmert. Nachdem die Schulen, Spielplätze und Jugendtreffs geschlossen wurden, hat sich das ganze Sozialleben der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in die digitale Welt verlagert. Dadurch wurden die Eltern noch mehr in Alarmbereitschaft versetzt, weil das Kind mitunter zehn Stunden am Stück vor dem Computer verbrachte. Die Anfragen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen während der vergangenen zwei Jahren haben sich beinahe verdoppelt. Während im Jahr 2019 15 Personen im Alter von 12 bis 25 Jahren mit einem „Gaming Disorder“-Problem betreut wurden, waren es 2020 bereits 30 und 2021 sogar 50 – 49 Prozent aller Anfragen betrafen Computer-Spielsucht. Diese Zahlen betreffen dabei allerdings „nur“ die effektiven Suchtpatienten, viel Arbeit – rund 80 Prozent der Tätigkeit von „Hands Onlus“ – wurde zudem in die Beratungen investiert.
„Seit die Schulen wieder geöffnet und die Corona-Regeln gelockert wurden, können wir einen Rückgang der Anfragen feststellen“, so Giovanelli, der erklärte, dass sich viele Probleme inzwischen von alleine gelöst hätten. Viele Anfragen seien unmittelbar auf die Pandemie zurückzuführen gewesen.
 

Psychologische Dynamiken

 
So wie alle Suchtverhalten, ob nun substanzgebunden oder unabhängig davon, folgt auch „Gaming Disorder“ bestimmten psychologischen Dynamiken. Sozialisierungsprobleme oder Stress schlagen sich im Verhalten nieder, das Spielen wird zu einem Ventil, um Stress abzubauen bzw. zu einer Möglichkeit, vorhandene Probleme auszublenden. Daraus könne ein Suchtverhalten nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr spielen kann, muss ich an meine Probleme denken und dann geht es mir schlecht“ entstehen, erklärt der Psychologe. Werden die Eltern auf dieses Problem aufmerksam, folgt nicht selten ein Verbot, was beim Betroffenen wiederum Unverständnis und Aggression hervorruft. Neben einer zunehmenden Aggression im familiären Umfeld weisen auch zunehmend Schulabbrüche auf ein Suchtverhalten hin. Doch nicht jeder, der im Internet spielt, wird gleich süchtig. Eine generelle Regel zum Suchtverhalten besagt, dass 80 Prozent der Personen, die Video-Games spielen, anderen Glücksspielen frönen oder Alkohol trinken, nicht die Kontrolle über ihr Verhalten und ihren Konsum verlieren. Jene, die ohnehin bereits Schwierigkeiten haben, Kontakte zu knüpfen, zählen zu den 20 Prozent, die ein Suchtverhalten entwickeln können. Die digitale Welt bietet mehr Freiraum, dort kann man sein, wer man will – sich zu öffnen, fällt in dieser Welt leichter – und entsprechend schwerer, wieder in die normale Welt zurückzukehren.
 
 
 
Durch die Anerkennung von „Gaming Disorder“ als Krankheit können sich die Betroffenen oder Erziehunsgeberchtigten an den Verein „Hands Onlus“ wenden, um eine kostenlose Suchtberatung zu erhalten. Sie müssen nicht mehr wie vorher üblich den Hausarzt kontaktieren. Die bürokratischen Hürden wurden durch diese Maßnahme gesenkt und den Betroffenen wird es erleichtert, sich Hilfe zu holen. „Absurderweise betrifft das allerdings nur die Gaming-Disorder- Störung“, kritisiert Giovanelli. Neben dieser nun anerkannten Krankheit gebe es nämlich noch eine Reihe weiterer Abhängigkeiten, welche die Internet-Welt betreffen, aber noch nicht als Krankheiten anerkannt sind – auch nicht von der WHO – und hier liege das eigentliche Problem. Denn nur dann könne auch auf Landesebene ein entsprechender Beschluss gefasst werden.
„Wir haben in der Praxis sehr viele Mädchen, die zwar nicht im Internet spielen, aber sich viel auf den Social Media Plattformen aufhalten“, erklärt der Psychologe, der darauf hinweist, dass diese „Social Media Disorder“ leider bisher noch nicht berücksichtigt werden. „Unserer Meinung nach ist das ein großes Manko, weil dadurch viele Fälle durch den Raster fallen.“ Im Rahmen einer Kommission wolle man jedoch auch dieses Problem zur Sprache bringen und eine Lösung finden, so Giovanelli.