Der Kriegschirurg
"Ich bin ein Kriegschirurg". Der nüchterne Tonfall, in dem sich Alberto Giudiceandrea zu seinem Beruf äußert, erinnert eher an einen, der sich als Lehrer oder Gärtner vorstellt. Fast alle Kriegsschauplätze der letzten zwei Jahrzehnte kennt der Bozner Arzt aus eigener Erfahrung: Syrien, Darfur, Jemen, Tschad, Kongo, Liberia, Sudan, Sierra Leone.... In wenigen Tagen fliegt der 61-Jährige in die Zentralafrikanische Republik. In ein Land, das eigentlich kaum als Kriegsgebiet bekannt ist. "An der Nahtstelle zwischen islamischen und animistischen Bevölkerungsgruppen finden in Afrika mittlerweile überall Kämpfe statt", versichert Giudiceandrea, der vier Sprachen beherrscht. Für frankophone Länder sucht das Rote Kreuz Ärzte, die französisch sprechen. Die "klimatisch angenehme" Hauptstadt Bangui kennt er bereits von früheren Aufenthalten.
"Die Arbeit sagt mir zu. Und wenn ich gebraucht werde, passt das."
Sein Vater, ein Latein- und Griechischprofessor aus Kalabrien, war nach Südtirol gekommen, um seinen Bruder Ugo zu besuchen, der als Richter nach Sterzing versetzt worden war. Und weil es ihm hier so gut gefiel, ließ er sich in Brixen nieder. Mit seinen Kindern unterhielt er sich auf deutsch, weil er dessen exakte Grammatik bewunderte. "Er sprach deutsch mit kalabresischen Akzent", schmunzelt Alberto, der die deutsche Volksschule besuchte, in der er damals als Exot betrachtet wurde. Später studierte er in Wien Medizin und übersiedelte dann nach London. "Dort habe ich das Handwerk des Chirurgen gründlich gelernt", resümiert Giudiceandrea. "Ich betrachte es als Handwerk im wahrsten Sinne des Wortes – mit Meistern, Gesellen und Arbeitsgeräten, deren Einsatz erlernt und geübt werden muss." Nach sieben Jahren kehrte er aus der britischen Hauptstadt nach Südtirol zurück und bewarb sich um einen Posten. Der wurde ihm allerdings verweigert – mit Ausnahme kurzer Verträge in den Krankenhäusern von Brixen und Bruneck. "Das Südtiroler Gesundheitssystem ist absolut hierarchisch", versichert der Arzt. Unterordnung gehört nicht zu seinen Charaktereigenschaften.
Also nahm er eine Stelle im Mailänder Krankenhaus von San Donato an, wo er noch heute operiert. Vor zwei Jahrzehnten brach er zu seinem ersten Auslandsaufenthalt auf an und ging für Ärzte ohne Grenzen nach Angola, wo die von Kuba unterstützte Unita-Befreiungsfront gegen die Regierungstruppen kämpfte. Sein erster Einsatzort war die Stadt Luena. Sie war von Rebellen umzingelt, aber durch einen Minenring geschützt. Die meisten Opfer waren Kinder: "Natürlich laufen Kinder herum. Sie nehmen die Gefahr nicht wahr. Man kann sie schließlich nicht einsperren. Die Gefahr ist groß und lauert überall. Ihre Verletzungen waren häufig tödlich, während Erwachsene oft mit einem Bein überlebten." Giudiceandrea kennt mittlerweile detailliert alle Arten von Minen und die "unglaublichen Verletzungen", die sie verursachen. "Oft mussten wir in behelfsmäßigen Spitälern operieren, ohne Röntgengeräte und mit primitiver Technik."
Wie kommt man mit einem Beruf zurecht, in dem man tagtäglich mit dem Grauen des Krieges konfrontiert wird? "Ich bin ein Chirurg und konzentriere mich auf meine Tätigkeit. Man arbeitet ja hinter der Front. Und dort bietet der Alltag auch anderes: die Dankbarkeit der betroffenen Bevölkerung, neue Erfahrungen, Bekanntschaften mit interessanten Menschen, Begegnung mit fremden Kulturen. Die Arbeit sagt mir zu. Und wenn ich gebraucht werde, passt das." In der Rolle des Samariters sieht sich Alberto nicht: "Ich habe einen Beruf, von dem ich leben muss." Deshalb wechselte er vor einigen Jahren von Ärzte ohne Grenzen zum Roten Kreuz: "Da werde ich für meine Arbeit regulär bezahlt."
Unterordnung gehört nicht zu seinen Charaktereigenschaften.
Drei Jahre arbeitete Giudiceandrea als Sanitätsdirektor in der Bozner Marienklinik, wo er heute noch operiert. Bozen habe zur Kriegschirurgie einen historischen Bezug, erläutert er. "Im ersten Weltrkrieg hat im Dominikanerkloster Lorenz Böhler operiert, dessen Lehrbücher noch heute Standardwerke sind. "Mit Professor Aichner, dem damaligen Assistenten Böhlers, habe ich als junger Arzt im Brixner Krankenhaus mehrmals operiert."
Immer wieder zieht es Giudiceandrea nach Afrika. So wie jetzt. Sein Motto klingt elementar: "Ich will frei sein."
Obwohl es längst zur Routine gehört, sorgt sich seine Frau Uta noch heute jedes Mal, wenn ihr Mann in Kriegsgebiete aufbricht. Doch das Fernweh ist in der Familie offenbar erblich: Albertos Tochter arbeitet als Anwältin in Paris, sein Sohn schließt in Kürze in Bukarest das Medizinstudium ab.