Culture | Jubiläum

100 Jahre Bauhaus: 1919-2019

Teil 2/2: Aus einer Haltung wird ein Stil wird ein Dogma. Oder wie der Funktionalismus die Moderne mit dessen eigenen Waffen schlug.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Bauhaus Dessau
Foto: Tadashi Okochi

Text: Lorenz Brugger

In Zusammenarbeit mit der Architekturstiftung Südtirol / in collaborazione con la Fondazione Architettura Alto Adige.

 

Was muss geschehen, dass aus einer derart differenzierten und gesellschaftlich ganzheitlich gedachten Haltung zu Architektur, Kunst, Handwerk und Technik ein dogmatisches Stilprinzip wird? Wie konnten die so auf Materialhaptik und fein austarierte Raumgefüge konzentrierten Architekten und Stadtplaner alles Sinnliche und Emotionale ihrer Architektur über Bord werfen und sich auf die wenigen funktionalen Bauprinzipien einigen, mit denen eine Uniformität und Gleichschaltung im Bauen heraufbeschworen wurde?

Nähert man sich diesen Fragen nicht in einem historischen Kontext, wird man kaum Antworten finden und mit viel Unverständnis und Ärger auf diese Entwicklung der Architektur nach dem 2. Weltkrieg schauen. Wie konnte man es überhaupt zulassen, die Durchsetzung der autogerechten Stadt und den Massen-Sozialwohnungsbau derart ausufernd gewähren zu lassen? All die alte Bausubstanz, die historischen Altstadtkerne, die teils radikal überformt, abgerissen und völlig neu aufgebaut wurden? Eine Antwort darauf findet sich darüber hinaus wie so oft nicht in singulären Argumentationen oder einfachen Begründungen, sondern kann nur als Zusammenspiel von unterschiedlichen Entwicklungen und Ereignissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstanden werden.

Doch beginnen wir dort, wo das Bauhaus endete: im nationalsozialistischen Deutschland, das kein geringer Anlass für zahlreiche Meister und Schüler des Bauhauses war, diesem Land endgültig den Rücken zu kehren. Berufsverbote, Diffamierungen, Verfolgung und nicht zuletzt das Ende der freien Meinungsäußerung veranlassten die meisten Bauhaus-Architekten, sich eine neue Heimat zu suchen. Die USA waren gerade für den ehemaligen Direktor Walter Gropius aber auch für Marcel Breuer und Lászlò Moholy-Nagy tatsächlich auch ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Gropius wurde ohne Umschweife zum Professor an der Harward School ernannt, Moholy-Nagy gründet das nur ein Jahr bestehende „New Bauhaus“ und Josef Albers wurde in North Carolina Professor während seine Frau Ani Albers ihre Webereien an zahlungskräftige Kunden verkaufte. 1937 kam Lyonel Feiniger, erster Meister am Bauhaus und lehrte und stellte in den USA aus und auch Ludwig Hilberseimer emigrierte 1938 in die USA und wurde Professor für Stadt- und Regionalplanung am Illinois Institute of Technology und war Direktor des Department City and Regional Planning. Als einer der letzten kam dann Mies van der Rohe in die USA, wurde Leiter des Armor Institute of Technology in Chicago. Es entstehen in der Folge und nach dem Krieg zahlreiche Bauten dieser Bauhäusler: Die Lake Shore Drive Apartments in Chicago mit einer der ersten voll verglasten Fassaden von 1951 und das Seagram Building festigen Mies van der Rohes Ruf als herausragender Architekt. Das Stahlskelett mit vorgehängter Fassade werden zum Standard im Hochhausbau, das Sichtbarmachen der Tragstruktur zum Dogma moderner Architektur. Das Besondere am Seagram Building ist neben seinen hochwertigen Materialien im Innenraum die städtebauliche Positionierung: anstatt das gesamte Areal mit einem Bau zu füllen, setzt Mies van der Rohe das Hochhaus von der Straße zurück, bildet einen Vorplatz und gibt dem Gebäude so mehr Raum. Auch dies wird zu einem Prinzip im Hochhausbau werden. Nach dem Krieg beginnen viele der alten Bauhausmeister wieder in Deutschland zu bauen. Gropius errichtet das Bauhaus-Archiv und die Gropiusstadt. Mies van der Rohe wird nur ein einziges Gebäude realisieren: die neue Nationalgalerie setzt seinen Gedanken eines Universalraumes um und lehnt sich am antiken Thema des Tempels an. Das Gebäude wird zum Vorbild für zahlreiche nachfolgende Museumsgebäude und könnte heute noch exakt so entworfen werden so zeitlos wie es erscheint.

 

Den Ruhm und den Erfolg verdanken sie vor allem einem Mann: Philip Johnson, der die Publikation „The International Style: Architecture since 1922“ herausgab, die zu der gleichnamigen Ausstellung 1932 in New York erschien. Es sollte ein erster Schritt in die Pauschalisierung einer Haltung sein. Darin führte man die moderne Architektur auf drei Grundprinzipien zurück: Architektur als Volumen, Regelmäßigkeit als ordnendes Mittel, Dekoration als nicht erlaubt. Auch die Farbe wird als nicht passend angesehen, stattdessen werden natürliche Fassadenmaterialien und die Farbtöne von Metall gepriesen.

Dabei wurde nicht nur das Bauhaus auf wenige formale Elemente reduziert. In vielen Ländern der Welt entstanden zur gleichen Zeit ähnliche Architekturen, die das Bauen an sich verändern wollten, heute unter dem Begriff der frühen Moderne zusammengefasst werden und in dieser Ausstellung ihren Platz fanden. Das hatte vor allem mit dem technischen Fortschritt zu tun, durch den die Eisengewinnung erheblich verbessert werden konnte. Eisen und später Stahl sowie der neue Portland-Zement als erstes künstlich hergestelltes Bindemittel hatten wesentliche Vorteile gegenüber Holz und so entwarfen Architekten und Ingenieure mit diesen neuen Materialien weittragende Hallen für Industrie und Handel bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Etwa zur gleichen Zeit wird auch der moderne Aufzug erfunden, der zusammen mit einem Großbrand in Chicago zu einem regelrechten Bauboom einer neuen Typologie führte: Das Hochhaus wurde nach dem Leitsatz des damaligen Architekten Henry Louis Sullivan „form follows function“ entworfen und startete den Siegeszug in die gesamte Welt.

Neben diesen Monumenten des Kapitalismus stechen in den USA in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einige außergewöhnliche Architekten heraus. Allen voran Frank Lloyd Wright, der betont horizontale Wohnhäuser mit ausufernden Terrassen und Dachüberständen entwarf, starke Bezüge zur umgebenden Landschaft herstellte und als Erfinder des offenen Grundrisses ohne klare Raumaufteilung gilt. Sein berühmtestes Bauwerk ist wohl das Wohnhaus „Falling Water“ in Pittsburgh: Inspiriert durch den angrenzenden Wasserfall und das ansteigende Gelände entwarf Wright ein Haus, dessen Räume alle in freie Terrassen münden, sich mit dem Gelände und dem Wasserfall nach unten entwickelt und als Tragkonstruktion eine Stahlgerüst aufweist. Mit viel Liebe zum Detail wurden bestehende Felsen in den Boden integriert, eine für Wright typische Feuerstelle aus lokalem Stein mitten im Wohnzimmer errichtet und breite Fensterflächen integriert. Alles zusammen lässt das Haus wie selbstverständlich für diesen Ort erscheinen.

Während die Amerikaner in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ein Hochhäuser und ausufernde, luxuriöse Wohnhäuser entwarfen, die von Weitläufigkeit und einem starken Bezug von Innen und Außen gekennzeichnet waren, setzte in Europa im Jugendstil, im deutschen Werkbund, am Bauhaus und vielen anderen Orten die Diskussion über den Stil und die Haltung zu Architektur ein. Es entstehen die Schriften von Otto Wagner, Adolf Loos und Walter Gropius, die neue Konstruktionstechniken austesten und das Ornament teilweise radikal ablehnen. Der Wiener Architekt Adolf Loos bringt die Verwendung eines Ornaments sogar mit einem Verbrechen in Verbindung und setzt mit dem Haus am Michaelerplatz 1910/11 dem Neoklassizismus der damaligen Zeit ein Gebäude entgegen, das mit seinen rahmenlosen Fenstern und der Betonung auf das Material fast schon eine Beleidigung für den Kaiser in der Wiener Hofburg gegenüber gewesen sein musste.

Etwa zur gleichen Zeit erregt ein Schweizer Architekt für Aufsehen in der Szene. Le Corbusier, wie sich Charles-Édouard Jeanneret-Gris alsbald nennen wird, muss neben den Bauhauses-Protagonisten als maßgebender Architekt der Moderne angesehen werden. Viele seiner Bauwerke zählen heute zu Ikonen der Architektur. Angefangen bei der Villa Savoye, erbaut 1929-1931, die nach den fünf Punkten zur Architektur realisiert wurden: Haus auf Stützen, Dachgarten zur Rückgewinnung bebauter Flächen, Fensterbänder für optimale Belichtung, freier Grundriss für die maximale Ausnutzung der Fläche und eine Fassade, die von der Tragfunktion befreit ist. Die Villa besticht durch eine Komposition von geraden und gekurvten Formen: nach Außen fast quadratisch, durchdringen im Inneren kurvige Formen den Raum und gliedern ihn. Der Bau erscheint von außen eher als Hohlkörper und nicht als Block. Er schwebt über dem Boden und stellt zwar Bezüge von Innen nach Außen her, es fehlt dennoch der Kontakt zur Umgebung. Diese Geschlossenheit in sich ist ein Kennzeichen seiner frühen Schaffenszeit, Bezüge zur Natur und Regionalität lehnt Le Corbusier strikt ab.

Diesen Ansatz einer universellen Architektur, die sich jeglicher Regionalität verweigert und weltweit einsetzbar sein sollte wird ein weiterer wichtiger Meilenstein für die Entwicklung der modernen Architektur. Le Corbusier setzt diese Idee allerdings raffiniert um: 1952 entsteht die erste Unité d’Habitation in Marseille, ein Prototyp einer so genannten Wohnmaschine, die mehrfach gebaut werden wird: auf dem 156 x 56 Metern großen freistehenden, aufgeständerten Wohnhochhaus finden 337 Apartments in 23 verschiedenen Typen Platz, für Singles bis Familien mit acht Kindern. Die Wohnungen sind ineinander verschachtelt und sitzen wie Schubladen in einem Gerüst, sind immer von außen belichtet und besitzen meist einen zweigeschossigen Wohnraum mit Loggia. Im Inneren legt Le Corbusier eine Ladenstraße an, mit sozialen Einrichtungen, Friseur, Restaurant und alles was zum Leben gebraucht wird. Auf die Dachterrasse sitzen Kinder- und Sporteinrichtungen sowie ein die in einer beeindruckenden skulpturalen Anordnung zueinander platziert wurden. An der Fassade und den Loggien kommen unterschiedliche Farbtöne zum Einsatz, um den Wiedererkennungswert zu erhöhen, ansonsten herrscht Sichtbeton vor. Das autarke Gebäude ist gleichzeitig der Versuch, die Zersiedlung einzudämmen aber auch ein Angriff auf die gewachsene europäische Stadt. Le Corbusier war ein glühender Verfechter davon, dieses tradierte, veraltete Konzept von Stadt auszulöschen, die Strukturen zu einem großen Teil abzureißen und mit lauter unterschiedlichen Wohnmaschinen neu zu ordnen. Er trat für die konsequente Trennung von Arbeit und Wohnen ein und beschrieb in der Programmschrift „Urbanisme“ von 1925 die ideale Stadt als ein Gebilde mit schnurgeraden Straßen für die schnelle Verbindung von Menschen und Güter, setzte Flughäfen ins Zentrum der Stadt, schlug unterirdische Bahnhöfe vor und trennte über zwei Ebenen den Fußgänger- und Autoverkehr. Diese Vision klingt heute wie eine Dystopie, die jedoch in vielen Teilen von den Stadtplanern der Nachkriegszeit übernommen wurde und auch vielfach umgesetzt wurde, ohne darauf zu achten dabei gleichzeitig auch qualitativ hochwertige Stadträume zu schaffen. Le Corbusier war aber genau wie Gropius und Mies van der Rohe ein herausragender Architekt mit einem großartigen Gespür für Raum, Proportion und Licht. Das beweist er vor allem in einem seiner letzten Bauwerke, der Kapelle Notre Dame du Haut Ronchamp mit ihren geschwungenen Fassaden, bunten Fenstergläsern in spielerischer Anordnung und einem beeindruckenden fliegenden Dach. Sie gilt bis heute als Meisterwerk moderner Architektur und ist so ganz anders als alles was Le Corbusier in seiner frühen Architekturauffassung vertrat.

 

Deutschland experimentiert, Österreich provoziert, Amerika nutzt seinen Raum ausgiebig aus, ein Schweizer erfindet die Architektur quasi neu und Italien? Italien radikalisiert alle Gedanken zu einer neuen Gesellschaft, will sogar alle alte Kunst wortwörtlich vernichten, wie Filippo Tomaso Marinetti in seinem „Manifeste de futurisme“ 1909 postuliert. Antonio Sant’Elia schuf in diesem Geiste zahlreiche Skizzen zu Städten und Gebäuden, nichts davon wurde je realisiert, doch der Einfluss auf Architekten wie Le Corbusier war enorm, die Ästhetik seiner Skizzen werden die Architektur der Nachkriegszeit mitbestimmen. Erst in den 1930er Jahren entwickelt sich ein eigenständiger Stil, der versucht antike Bauprinzipien mit rational-logischen Geometrien zu vereinen. Giuseppe Terragni, ein überzeugter Faschist, baut 1932-36 die casa del fascio, heute casa del popolo in Como, einen Verwaltungsbau mit weißer Marmorverkleidung ohne Ornamentik und einer umlaufenden Stützenreihe im Erdgeschoss, die an einen Portikus erinnert. Der symmetrische Grundriss weist Parallelen zu den Vierflügel-Anlagen der Renaissance auf.

Basierend auf diese architektonischen Entwicklungen, die hier nur grob umrissen werden, entsteht also ein durchaus differenziertes und ambivalentes Bild moderner Architektur, das sich in vielen Teilen auch widerspricht. Der berühmte finnische Architekt Alvar Aalto zum Beispiel vertrat weder die Auffassung, dass Architektur die Gesellschaft verändern muss, noch bediente er sich der Maschine als Vorbild. Seine Bauten sind geprägt von einer Naturverbundenheit, der Verwendung eher untypischen Materialien wie Bruchstein und Holz und viele seiner Gebäude wirken äußerst skulptural. Diese sogenannte romantische Moderne, geprägt von Individualität und Freiheit kann ergänzt werden durch die expressionistischen Architekturen von Erich Mendelsohn, Bruno Taut und dem organhaften Bauten eines Hugo Häring, der das Haus als weiteres Organ seiner Bewohner ansah und von einer gewachsenen Organisation der Welt ausging, ganz im Gegensatz zu Le Corbusiers Gedanken eines radikalen Neuanfangs.

 

Wie kommen wir also zu den massenhaft realisierten Plattenbauten und Großwohnsiedlungen der Nachkriegszeit, die zurecht massiv in der Kritik stehen? Das Europa nach der Stunde null, dem Ende des Nationalsozialismus und dem neuerlichen Zerfall einer Gesellschaft möchte einen radikalen Neuanfang wagen. Es beginnt eine Zeit der Zweckmäßigkeit und Rationalität aufgrund kaum vorhandener Ressourcen, ein technischer Positivismus und ein extremer Wachstums- und Fortschrittsglaube gepaart mit einer kollektiven Verdrängung der schrecklichen Geschehnisse. Dazu kommt eine Haltung, alles Traditionelle und Regionale abzulehnen, da man mit der Vergangenheit abschließen wollte. Es kommt in den Jahrzehnten nach 1945 zu einem beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand, technische Neuerungen wie das Fernsehen halten Einzug in die Wohnzimmer und das Auto für Jedermann ist Ziel einer jeden hart arbeitenden Familie. Genau in diese Kerbe schlugen bereits Le Corbusiers Schriften „vers une architecture“ von 1923 und „urbanisme“ von 1925 und propagierten, was in der Nachkriegszeit vor allem in Deutschland zum Dogma der Stadtplanung werden sollte. Allein die Fixierung auf Verkehrstauglichkeit, Standardisierung und schnelles Bauen werden zum Grundprinzip der autogerechten Stadt, die sich in den zerstörten Städten Deutschlands auch politisch vorzüglich umsetzen ließ. Die Bauwirtschaft witterte die Profite, die ein billiges und standardisiertes Bauen mit sich brachten und übernahm jene Prinzipien der Moderne, die zu einer Profitmaximierung führten: gerade Linien, quaderförmige Baukörper, Ornamentlosigkeit, Zeilenbau, hohe funktionale Flexibilität, Minimierung der Flächen auf das Notwendige. Gleichzeitig setzte man auch moderne Bauweisen und technische Neuerungen um: Etagenheizung, voll ausgestattete Küchen, fließend Wasser und Strom, was in den übrig gebliebenen Gründerzeitbauten vor und nach dem Krieg nicht flächendeckend vorhanden war.

Eine Individualisierung, gut geschnittene Räume, austarierte Raumgefüge, Überlegungen zu guter Belichtung und Materialität wurden immer konsequenter aus den Entwurfsüberlegungen gestrichen, da sie meistens mit einem finanziellen und zeitlichen Mehraufwand verbunden waren. Die Architekten ließen sich vor den Karren der Rationalisierung und Profitmaximierung spannen um ihre Vision einer modernen Stadt auf Kosten der Qualität schaffen zu können. Sobald aber dieser Rationalisierungsgedanke nicht nur im Großmaßstäblichen sondern bis ins technische Detail durchgesetzt wird und somit jegliche Varianz und Differenzierung verloren geht, bleibt auch die Seele und der Charakter eines Gebäudes auf der Strecke. So geschehen in den massenweise erstellten Großwohnsiedlungen wie der Gropius-Stadt in Berlin. Ursprünglich von Gropius in den USA entworfen, fordert die Stadt Berlin wesentlich mehr Wohnungen als geplant und Gropius zieht sich immer mehr aus dem Entwurf zurück. So werden aus 14.000 Wohnungen 19.000 Wohnungen und aus wenigen 14-stöckigen Gebäuden viele 30-stöckige Türme. Die von ihm eher als Stadtlandschaft entworfene Siedlung wird im Laufe der Jahrzehnte zum sozialen Brennpunkt in Berlin. Neben dieser profitmaximierenden Veränderung des Entwurfs leiden fast alle Großsiedlungen der Nachkriegsjahre an den grundsätzlichen Problemen eines komplett neuen Stadtviertels, das nach den Prinzipien der Funktionstrennung geplant wurden: die städtischen Zusammenhänge wurden aufgelöst, Gewerbe und Wohnen wurden konsequent stadträumlich getrennt und somit Kieze und Stadtnachbarschaften ausgelöscht, die teilweise über Jahrhunderte gewachsen waren.

 

Dabei war die Neuordnung der Städte eine ungeheure Chance, um die Lebenssituation von ganzen Stadtgesellschaften nachhaltig zu verbessern. Die Wohnungssituation vor 100 Jahren war erschreckend: Düstere, enge Mietshäuser, rauchende Holzöfen, vielköpfige Familien auf engstem Raum und Gemeinschaftstoiletten in den Hinterhöfen. Es ist aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbar, wie das Leben in diesen Städten ausgesehen haben mag. Das Bauhaus erkannte als eine der ersten Strömungen in der Architektur die Notwendigkeit einer Veränderung. Man mag es kaum glauben, doch die neu erdachten Wohnsiedlungen der Vorkriegszeit, die direkten Vorläufer dieser kolossalen Großwohnsiedlungen haben die englische Gartenstadt zum Vorbild, in der jedes Haus einen eigenen Garten besaß. Das Problem des sehr hohen Flächenverbrauchs wurde über die serielle Bauweise, die Typisierung von Wohneinheiten und die Verdichtung auf wenige Gebäude mit mehr Geschossen, die einen gemeinschaftlichen Freiraum haben, gelöst. So geschehen in der ersten Großsiedlung Deutschlands mit einer markanten, namengebenden Grundrissform: Die Hufeisensiedlung von Bruno Taut und dem Sozialdemokraten Martin Wagner forcierte die Gleichberechtigung aller Bewohner und umschließt eine großzügige Grünfläche mit öffentlichen und privaten Gärten. Der sogenannte Außenwohnraum wird zum zentralen Aufenthaltsbereich und Nachbarschaftstreff der Siedlung. Hier wurde der Kerngedanke des Bauhauses „Licht, Luft und Sonne für alle“ mustergültig umgesetzt und mit den neuen Möglichkeiten der seriellen Produktion verbunden. Es war ein weiterer Schritt hin zu einer Industrialisierung des Bauens und gleichzeitig auch des Wohnens. Es entstehen in der Folge die industriellen Standards, die es ermöglichen in den 1950ern möglichst schnell und preiswert zu bauen. Die Folgen sind bekannt.  

Mit einem hehren Ziel sind die Architekten des Bauhauses angetreten, die Gesellschaft als Ganzes wollten sie verändern, einen neuen Menschen wollten sie erschaffen. Es grenzt aus heutiger Sicht schon fast an Arroganz, tatsächlich an die Veränderungskraft allein durch Architektur geglaubt zu haben. Die Haltung, den Menschen verändern zu können, führte letztendlich auch zu einer Entfremdung von allem Menschlichen, allem Widersprüchlichen in uns, allen Dynamiken einer ambivalenten, differenzierten und so unterschiedlichen Gesellschaft. Architektur kann eine Veränderung nur begünstigen, zum Guten wie zum Schlechten. Im Falle des Bauhauses und all den zeitgenössischen und nachfolgenden Architekturauffassungen lassen die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen die meisten Architekten und Stadtplaner dazu verleiten, große Teile ihrer Überzeugungen, ihrer Schaffenskraft und dementsprechend auch ihrer Glaubwürdigkeit aufzugeben. Manchmal waren es die Architekten selber, die den Entwicklungen noch den nötigen Schub gaben und sich in teils waghalsigen und widersprüchlichen Theorien zu einer neuen Architektur verhedderten, sie ließen sich auf profitorientierte Unternehmen ein und wollten unter allen Umständen ihre Vorstellung von Architektur umsetzen. Die einsetzende Globalisierung, der technische Positivismus, die Mechanisierung und eine als rein wissenschaftstechnisch verstandene Natur führten zwangsläufig dazu, dass Haptik, Abwechslungsreichtum und der angemessene Maßstab zugunsten von ökonomischen Wertvorstellungen eliminiert wurden. Tatsächlich hat die Moderne als Architektursprache ihren Teil dazu beigetragen, die Gesellschaft zu verändern. Wir wohnen heute anders: moderner, hygienischer, luftiger; aber auch gleichförmiger, abgehobener und trister, müssen mit sozialen Brennpunkten umgehen und mit den Folgen unausgereifter Bautechniken leben. Der Massenwohnungsbau mit radikaler Funktionstrennung förderte Segregation, Abgrenzung und Ausgrenzung und verhinderte Durchmischung und Integration neuer Bevölkerungsgruppen.

 

Es ist schwer zu sagen, ob man es voraussehen hätte können. Fakt ist, dass wir heute mit diesem Erbe umgehen und auch annehmen müssen. Manche Gebäude werden zu Unrecht kritisiert und abgerissen, andere können schlicht nicht einfach ausradiert werden und müssen über Transformation an heutige Vorstellungen angepasst werden. Es bleibt die Frage, ob wir tatsächlich daraus gelernt haben. Wenn man sich die zeitgenössischen Investorenbauten und Wohnbauten von einschlägigen Bauträgern anschaut, wird zwar vieles besser gemacht, doch die Profitmaximierung führt weiterhin zu gesichtslosen, charakterlosen und schrecklich eintönigen Gebäuden. Dass die Architekten daran einen nicht unbeachtlichen Anteil daran haben kann nicht bestritten werden, doch auch wir als Gesellschaft müssen uns die Frage stellen, wie wir in Zukunft leben wollen und abwägen, ob wir in einer gebauten Umwelt leben wollen, die zwar kurzfristig gesehen finanzielle Vorteile bringt, jedoch gleichzeitig monoton und immer gleich aussieht und uns langfristig gesellschaftlich einen viel größeren Schaden zufügt.  

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Lorenz Brugger Mon, 07/29/2019 - 13:06

In reply to by Elisabeth Garber

Danke für die Ergänzung, die Doku ist immerhin sehenswert, der Spielfilm "Lotte am Bauhaus", der dort in Szenen eingebaut wurde, ist eine furchtbare Verklärung und Verkitschung der realen Bedingungen für Frauen am Bauhaus.

In jedem Fall wäre das Thema "Frauen am Bauhaus" sehr gut geeignet für einen eigenen Artikel, zumal es ja durchaus aktuell ist.

Mon, 07/29/2019 - 13:06 Permalink
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Elisabeth Garber Mon, 07/29/2019 - 17:26

In reply to by Lorenz Brugger

Den Spielfilm hab' ich nicht gesehen. Ja, die Bedingungen wurden, nach anfänglicher Gleichberechtigung, hart für Frauen am Bauhaus. Soweit ich mich an die Doku erinnere...wurden die begabten Damen bald einmal wieder in tradtionelle Rollen/Aufgabenbereiche 'gedrängt' (Weberei, Design von Kinderspielzeug). Dem Bauhauschef (Namen vergessen) war der Frauenandrang zu viel geworden.

Mon, 07/29/2019 - 17:26 Permalink