Politics | Interview

„Das Potential ist immer da“

Der Sozialwissenschaftler Matthias Scantamburlo über Mahnfeuer auf den Bergen, das sezessionistische Potential in Südtirol und die Autonomiepolitik der SVP.
Los-von-Rom-Forderung
Foto: FB Südtiroler Freiheit

Matthias Scantamburlo ist Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Carlos III in Madrid und am „Regional Manifestos Project“ der Universität Deusto in Bilbao. Der gebürtige Brunecker forscht insbesondere zu territorialer Politik und Nationalismus. Im Interview spricht er über regionale Parteistrategien, den veränderten Autonomie-Diskurs der SVP und wie sich die jüngsten Spannungen zwischen Bozen und Rom auf das Sezessionismuspotential in Südtirol auswirken können.

 

Salto.bz: Herr Scantamburlo, in einer Ihrer veröffentlichten Studien analysieren Sie die Strategien sogenannter ethnoregionaler Parteien. Können Sie kurz erklären, was damit gemeint ist und inwiefern das „ethnische Element“ in den Parteien Südtirols eine Rolle spielt? 

Matthias Scantamburlo: Ethnoregionale Parteien verteidigen die Diversität eines bestimmten Territoriums innerhalb des Staates und organisieren sich ausschließlich auf diesem Territorium. Sie politisieren die Konfliktlinie Zentrum-Peripherie, also den Konflikt über die politische Kontrolle eines Territoriums innerhalb des Nationalstaates. Obwohl sie sich dabei unterschiedlich positionieren (vom kulturellen Protektionismus bis hin zur Sezession) ist ihre Position entlang dieser für sie primären Konfliktlinie immer konsequent auf der Seite der Peripherie, also der Minderheit. In Südtirol bezeichnet das „ethnische Element“ die auf ethnischer Trennung basierende Parteienorganisation und Identität. Andere Minderheitenparteien in Europa verteidigen hingegen eine inklusive, auf politischen Merkmalen basierenden, Identität, aber auch sie müssen sich immer von der Mehrheit abgrenzen. 

Sie beobachten in Ihren Studien, wie Parteien in autonomen Regionen ihre Positionen zur Autonomie strategisch anpassen, um Wähler zu mobilisieren. Welche Entwicklungen konnten Sie dabei in der Parteienlandschaft Südtirols in den letzten Jahren beobachten?

Als Parteien, die ihr jeweiliges – potentiell unabhängiges – Territorium regieren oder regieren möchten, müssen regionalistische Parteien natürlich zeigen, dass sie in der Lage sind, alle Probleme der Wählerschaft zu lösen, nicht nur Autonomie und Selbstbestimmung. Die Entscheidung territoriale oder andere Themen wie die Wirtschaft zu betonen hängt immer vom politischen Kontext ab. In Südtirol gibt es einen stark segmentierten Wettbewerb und in der deutschen Wahlarena lässt sich im Laufe der 2000er Jahre schon eine Verschiebung hin zu einer verstärkten Auseinandersetzung über territoriale Themen beobachten.

Der territoriale Konflikt ist der primäre Konflikt regionalistischer Parteien. Sie werden auch von der WählerInnen vor allem an dem gemessen, was sie vom Zentralstaat herausholen und weniger an anderen Themen. Deshalb sind sie im Vergleich mit anderen Parteien so resistent.

Hat sich dabei der Zentrums-Peripherie-Konflikt in den letzten Jahren verändert?

Der Zentrums-Peripherie-Konflikt vereinigt zwei thematische Felder: ein funktionales und ein identitäres. Ersteres betrifft die Verteilung der politischen Autorität zwischen Staat und Region, letzteres hingegen Prozesse der Nationenbildung, also die Gründe hinter den Forderungen nach (mehr) Selbstbestimmung. Während sich an der ethnischen Identitätskonstruktion der Südtiroler Parteien an sich nichts geändert hat, lässt sich bei der SVP in den letzten 5 bis 10 Jahren ein stärkerer Fokus auf funktionale Themen beobachten. Bei der rechten Opposition ist das genau umgekehrt. Die SVP hat sich zwar mit ihrer Strategie der „Vollautonomie“ in ihren Forderungen von Rom radikalisiert, allerdings den territorialen Diskurs dabei einigermaßen umformuliert, also eher weg von „volkstümlichen“ Argumenten.

Warum hat die SVP ihren Diskurs bezüglich Autonomie verändert?

Die SVP hat ab 1998 konsequent Stimmen an Parteien aus der rechten Opposition verloren und vor der Landtagswahl 2013 mit dem Diskurs der „Vollautonomie“ auf Freiheitliche und Südtiroler Freiheit geantwortet. Der veränderte Diskurs der SVP weg von identitären und hin zu funktionalen Argumenten macht insofern Sinn, weil sie seit einiger Zeit auch in der italienischen Wahlarena Stimmen erhält. Zu viel „Volkstum“ würde diese verschrecken. Viele von ihnen sind 2018 aber zur Lega übergewandert. Bei den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen der ethnischen Südtiroler Parteien gibt es hingegen nur geringe Unterschiede. Die Polarisierung findet fast ausschließlich auf der territorialen Dimension – Sezession vs. Autonomie – statt. 

 

Steht dieser Trend in Zusammenhang mit der allgemeinen Tendenz europäischer Zentrumsparteien, dem erstarkenden Populismus Zugeständnisse zu machen, um seine Wähler nicht an den extremen Rand zu verlieren?

Der Aufstieg populistischer Parteien ist mit der Erosion der Repräsentationsfunktion von Parteien verbunden. Die Parteien haben sich von der Gesellschaft wegbewegt, sie bilden nicht mehr dieses Bindeglied zwischen Gesellschaft und Institutionen. Schließlich haben auch Globalisierung und EU den nationalen Parteienwettbewerb ausgehöhlt – auf die großen wirtschaftspolitischen Fragen hat man als WählerIn keinen Einfluss mehr, mitte-links und mitte-rechts erscheinen gleich. All das schafft Unbehagen mit dem Funktionieren der Demokratie. In Südtirol kommt eben noch dazu, dass seit 70 Jahren nur eine Partei an der Macht ist. Dieses Potential ist nach der Krise vor allem von Freiheitlichen und Südtiroler Freiheit mobilisiert, und erleichtert durch die damaligen Eingriffe der Monti-Regierung eben sezessionistisch ausgelegt worden. Überspitzt formuliert sind Konflikte zwischen Minderheitenregionen und Zentralstaat dieselben wie zwischen Nationalstaaten und EU. Es geht um Fragen der Souveränität und schlussendlich der Demokratie. Letztere kann ohne erstere nicht funktionieren.  

 

Wie wirkt sich dieser veränderte Diskurs der SVP auf das sezessionistische Potential in Südtirol aus? 

Der Diskurs der SVP über die Vollautonomie in Verbindung mit erfolgreichen Verhandlungen auf nationaler Ebene (Sicherungspakt, Autonomieklausel usw.) erlaubte in der letzten Legislaturperiode zumindest das Argument, dass die Autonomie auf sicherem Fundament steht was dem autonomistischen Weg an Glaubwürdigkeit verleiht, und zwar in dem Ausmaß, dass die Bevölkerung sogar einer zentralistischen Verfassungsreform zugestimmt hat! Die SVP muss immer zeigen, dass mit Italien erfolgreich verhandelt werden kann. Ein gewisses Konfliktpotential schadet ihr dabei nicht. Das ist anderen Minderheitenregionen auch so. Der territoriale Konflikt ist der primäre Konflikt regionalistischer Parteien. Sie werden auch von der WählerInnen vor allem an dem gemessen, was sie vom Zentralstaat herausholen und weniger an anderen Themen. Deshalb sind sie im Vergleich mit anderen Parteien so resistent. Der Vertrauensverlust nach dem Pensionsskandal hat beispielsweiße stärker die Freiheitlichen getroffen, natürlich weil sie ihr Image dabei verloren haben, aber auch weil die SVP in Rom generell ihre Hausaufgaben macht. Das Problem ist, wenn auf die Dauer nix kommt. Weniger Autonomie, das geht natürlich nicht. Wenn große Teile der Bevölkerung dazu noch das Vertrauen ins System verlieren, wie nach der Krise, und man im Staat einen Vetoplayer gegen alles hat, dann passiert das, was in Katalonien passiert ist. Aber davon sind wir weit entfernt.

Die Bergfeuer können medial beeindruckend sein, aber die letzten Wahlergebnisse zeigen einen deutlichen Rückgang der sezessionistischen Option. Allerdings gibt es einen potentiell mobilisierbaren Teil der Gesellschaft. In Regionen wie Südtirol ist der immer vorhanden.

Ein aktuelles Ereignis, das sezessionistischen Tendenzen Öl ins Feuer goss, war das Angebot Österreichs, (deutschsprachigen) Südtirolern die Doppelstaatsbürgerschaft zu garantieren. Wie hat dieses Ereignis sich auf die Kräfteverhältnisse bzw. Parteistrategien in ST ausgewirkt?

Ich würde sagen kaum. Bei den letzten Landtagswahlen standen eben andere Themen im Vordergrund wie Sanität und Immigration und was die Autonomie an sich betrifft war die Lage eher entspannt. In einem territorial wenig polarisierten Kontext war der Fokus auf dieses Thema eher von Nachteil – das haben die Freiheitlichen ja sogar selbst zugegeben, wenn ich mich richtig erinnere. 

Zuletzt gab es einige Unstimmigkeiten zwischen Bozen und Rom: die Entscheidung des Landeshauptmanns, die Phase II früher einzuleiten, die Diskussion um den Beitrag des Landes an Rom. Falls Südtirol ihn dieses Jahr nicht einbehalten könne, so Kompatscher, „weiß ich nicht, wie ich den Bürgern die Situation erklären soll und die Sezessionisten werden auf den Tischen tanzen“. Ist diese Aussage eine leere Drohung, um Konzessionen aus Rom zu erhalten, oder steckt mehr dahinter?

Es geht immer um Konzessionen. Das Beispiel veranschaulicht aber die Dilemmas, denen Parteien und Regierungen in dezentralisierten Systemen ausgesetzt sind. Die Konzentration der Autorität in der Zentralregierung während der sanitären Krise verändert das normale Funktionieren der demokratischen Kontrolle regionaler Regierungen – Verantwortlichkeiten werden verwässert. Mit der Öffnung wird die Landesregierung den WählerInnen gegenüber wieder rechenschaftspflichtig. Das ist nicht nur gut für die Autonomie, sondern vor allem für die regionale Demokratie. Die SVP ist damit aber wieder in der Situation autonomiepolitische Erfolge erzielen zu müssen. Luca Zaia (Präsident der Region Venetien, Anm.d.Red) kann sich bei einem Konfrontationskurs leisten, dass Rom Maßnahmen wieder zurücknimmt, das würde seine Wählerbasis sogar stärken. In Südtirol geht das nicht so leicht, da hat der Landeshauptmann schon recht. Eine schnelle Öffnung kann für Nettozahler-Regionen aber auch kostspielig sein, wenn alles wieder rückgängig gemacht werden muss und noch viel stärker, wenn man damit negativ zur Gesamtsituation beiträgt. Ich würde beim Sezessionismus aber nicht per se von einer Gefahr sprechen, sondern von einer demokratischen Option, die auf dem politischen Feld ausgetragen werden sollte. Aber dazu gibt es verschiedene Meinungen. 

Das Beispiel Katalonien zeigt, dass es oft schnell gehen kann. Eine solche Mobilisierung halte ich hier aber für äußerst unwahrscheinlich, dafür fehlt die Kultur der zivilgesellschaftlichen Organisation

Wie groß schätzen Sie das sezessionistische Potential in Südtirol ein? 

Das lässt sich sehr schwer sagen, da es dazu keine Umfragen gibt. Die Bergfeuer können medial beeindruckend sein, aber die letzten Wahlergebnisse zeigen einen deutlichen Rückgang der sezessionistischen Option. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass sezessionistische Parteien 2013 über 25% erreicht haben, sodass es einen potentiell mobilisierbaren Teil der Gesellschaft gibt, der sie zwar nicht direkt wegen des Themas wählt, der Unabhängigkeit aber vielleicht auch nicht entgegensteht. Das Potential ist in einer Region wie Südtirol immer vorhanden. Ausschlaggebend ist, wie der territoriale Konflikt gemanagt wird – wegwünschen kann man sich diesen nicht. Der territoriale wie der ökonomische Konflikt sind tiefgreifend mit der Herausbildung der Nationalstaaten verbunden und bleiben für lange Zeit fest verankert. Das Beispiel Katalonien zeigt, dass es oft schnell gehen kann. Eine solche Mobilisierung halte ich hier aber für äußerst unwahrscheinlich, dafür fehlt die Kultur der zivilgesellschaftlichen Organisation und die ist dort gewaltig. Das lässt sich nicht von heute auf morgen aufbauen.  

Was häufig als Ursache für wachsende ethnische Unruhen in Minderheitenregionen genannt wird, ist ökonomische Unsicherheit. Glauben Sie, die durch Corona androhende wirtschaftliche Krise wird nationalistische Tendenzen in Südtirol steigen lassen?

Sezessionsbestrebungen werden durch eine komplexe Mischung von Faktoren angetrieben. Der regionale Nationalismus hat niemals einen primär wirtschaftlichen Charakter. Wo er einen solchen hatte, wie im Falle der Lega Nord, musste eine neue Identität – Padanien – erst geschaffen werden. Wirtschaftliche Ungleichgewichte können indirekt eine Rolle spielen. In Spanien und Italien etwa wurde die Krise von den Regierungen ideologisch benutzt, um eine nationalistische Agenda der Re-zentralisierung umzusetzen und im Zuge der EU auferlegten wirtschaftlichen Konsolidierung die Regionen strengstens zu kontrollieren. In Katalonien z.B. hat dies maßgeblich zur Verfestigung der Unabhängigkeitspräferenzen beigetragen. Auch in Südtirol haben die Eingriffe der Monti-Regierung der rechten Opposition damals zugespielt. Primär geht es dabei aber um Souveränität. Erste hier in Spanien durchgeführte Umfragen zeigen, dass bei einem externen Schock wie Covid die BürgerInnen tatsächlich eine Konzentration der Macht weg von der EU und den Regionen hin zur Zentralregierung befürworten. Darüber hinaus hat die Situation zu einem starken Anstieg der generellen Präferenzen für eine Re-zentralisierung des Estado Autonómico geführt. Geht man davon aus, dass Italien und Spanien ähnlich sind, sind sieht die Zukunft für die regionale Autonomie nicht so rosig aus.