Mit Blick auf den Tod
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Die Fotografie um die es geht, aufgenommen vom Fotografiestudenten Robert Wiles, zeigt den leblosen Körper von Evelyn McHale, vier Minuten nach ihrem Tod. Die 23-jährige Frau, die am 1. Mai 1947, inmitten der „Labour Day“ Feierlichkeiten von einer Aussichtsplattform im 86. Stock des New Yorker Empire State Buildings sprang, liegt wie schlafend am eingedrückten Dach einer Limousine, Beine leicht überschlagen und eine behandschuhte Hand an der Perlenkette. Bei längerer Betrachtung des Bildes, das wir erst am Ende des Artikels zeigen wollen um dem Leser die Möglichkeit zu geben es nicht zu betrachten, entsteht eine Sogwirkung.
Der morbiden Anziehung des Bildes erlag auch Autorin und Journalistin Nadia Busato, die in ihrem Buch „Non sarò mai la brava moglie di nessuno“ (2018 bei SEM - Società Editrice Milanese erschienen) versucht, sich den Hintergründen dieses Freitods und dem Leben und Fortleben von Evelyn McHale anzunähern. Sie tut dies mit einer nicht immer klar zu trennenden Mischung aus journalistischen und auch literarisch-fiktionalisierenden Passagen, unterbrochen von den sanft jazzigen Evergreens von Sänger und Pianist Jet Set Roger. Eingeladen wurden die Autorin und der Musiker im Zuge der Estate Don Bosco, die morgen Donnerstag in Zusammenarbeit mit Tanz Bozen mit "Passage / Paysage" auf der Bühne des Semiruraliparks fortgesetzt wird. Der Eintritt ist frei, Beginn der Veranstaltugn ist um 21 Uhr.
Der Romantisierung eines Suizids setzt diese Musik wenig entgegen, doch ohnehin hat sich die Fotografie von der zwischen geborstenem Glas und verbogenem Metall scheinbar unversehrt liegenden Frau verselbstständig: Andy Warhol, David Bowie, Radiohead, HIM, Pearl Jam… Eine unvollständige Aufzählung von in der Hauptsache männlichen Künstlern, die auf das wenig später als „Bild der Woche“ im Life-Magazine veröffentlichte Foto auf verschiedene Art und Weise Bezug genommen haben. Vom Nachleben im Film und in der Mode, wo der „Evelyn-Effekt“ (Schminke und Pose wie leblos) bis heute ein beliebtes Schockmittel in der Werbung ist, wurde damit noch gar nicht gesprochen.
Mit sechs so genannten „Indizien“ will Busato das Publikum zu den Gründen dieses Freitods eigene Schlüsse ziehen lassen: Beginnend bei der Zeugenaussage des Fotografen Robert Willes, jener des Verlobten, der Schwester Helen, die Evelyn identifizierte, der Perspektive der Mutter und schließlich einem frei erfundenen Telefonat zwischen Verlobtem und Verlobter. Letzteres schrieb die Autorin um der ihr im Laufe der Recherche zur „Freundin“ gewordenen Toten einen Abschied zu ermöglichen. Kurz im Bild der Präsentation sind dagegen die von Evelyn McHale kurz vor ihrem Tod aufgeschriebenen Worte, die eher den irgendwo auch widersprüchlichen Charakter des Abends deutlich machen:
„I don't want anyone in or out of my family to see any part of me. Could you destroy my body by cremation? I beg of you and my family – don't have any service for me or remembrance for me. My fiance asked me to marry him in June. I don't think I would make a good wife for anybody. He is much better off without me. Tell my father, I have too many of my mother's tendencies.“
„Ich möchte nicht, dass jemand, in oder außerhalb meiner Familie auch nur einen Teil von mir sieht. Könnten Sie meinen Körper durch Einäscherung zerstören? Ich flehe Sie und meine Familie an, keine Beerdigung oder Andacht für mich zu halten. Mein Verlobter hat mich gebeten, ihn im Juni zu heiraten. Ich glaube nicht, dass ich jemals eine gute Frau für jemand abgeben würde. Er ist ohne mich viel besser dran. Sagen Sie meinem Vater, dass ich zu viele der Neigungen meiner Mutter habe.“ (Übersetzung des Redakteurs)
Gerade beim ersten Satz fragt man sich als Zuseher, ob sich Busato nicht die eine oder andere kleine Freiheit zu viel herausgenommen hat. Auch der Titel ihres Buchs „Non sarò mai la brava moglie di nessuno“ ist etwas frei aus den obigen Zeilen übersetzt und macht aus verzweifelter Unsicherheit eine bestimmt wirkende Trotzigkeit. Selbstmord als Rebellion, auch dieses Motiv ist hinlänglich bekannt.
Wo sich Busato in ihrem Buch verdient macht, sind weniger die mit Fortdauer des Abends zusehends aufkommenden fiktiven Passagen und mehr der Blick auf die Selbstmordmotive. Die geschnupperte Autonomie am Arbeitsmarkt, die mit der Rückkehr der Männer aus dem Krieg jäh endete, die bevorstehende Hochzeit oder die psychischen Probleme („tendencies“) der Mutter, welche die Autorin schon zu Lebzeiten als Geist im Haushalt zeichnet und das Sorgerecht über ihre Kinder verlor.
Letztendlich bleiben Fragen und auch das Mysterium der wider ihres letzten Willen unsterblich verstorbenen Evelyn McHale, deren Bild uns heute wie damals berührt und verstört, bleibt heute so faszinierend wie damals.