Gedächtnissprünge
Erinnerung kommt nicht gelenkt in Gang. Sie läuft nicht auf der Zielgeraden rückwärts. Sie drückt nicht auf den Knopf, der in unserem Kopf Vergangenheit abruft. Erinnerung steht uns immer bevor und ist jedes Mal unverschämt ein neuer Anfang. Manchmal überfällt sie uns wie der Schlaf oder wie im Schlaf der Traum. Sie treibt uns ein Bild oder eine Ahnung zu, mit der sich keine Nacherzählung und kein Bericht decken können. Sie kommt von irgendwo und wir wissen nicht immer woher. Aber mit ihr ist eine Vergangenheit da, die unsere Gegenwart löchert, und wir rutschen durch die Löcher und Lücken in ihre Arme. Oft sind es Gegenstände, durch die die Erinnerung Besitz von uns ergreift. Sie liegen gestreut in unserer Gegenwart, hereingefallen aus einer Vergangenheit, mit der sie untrennbar verbunden sind. Genauso kann es ein Bild, ein Foto, eine Stimme sein. Auch ein Wort oder ein Satz, der uns anspringt. Oft ein Gefühl, das wie ein inneres Stilleben in uns ruht. Ohne dass wir uns ihrer Macht erwehren können, sind wir durch sie mit einem Früher und Damals verknüpft, von dem wir nicht einmal immer wissen, ob und wie wir es kennen oder ob wir durch den Satz, den Gegenstand oder das Bild so an deren Geschichte rühren, dass wir meinen, sie gehöre ganz zu uns und wäre nicht vermittelt und überbracht und also von 2. und 3. und von langer Hand, die wir Nachgedächtnis nennen. Darin schreiben wir Vergangenheit fortlaufend um und durchkreuzen im Eigenrecht der Nach-Schrift die Zeiten. Gedächtnis ist kein „Instrument zur Erkundung der Vergangenheit, sondern deren Schauplatz“, schreibt Walter Benjamin.
Wie wird, was die Erinnerung als Geschehen festhält, zur Geschichte?
Lückenhaft ist dieses Gedächtnis, während die Erinnerung springt. Anders als die leblosen Datenspeicher der Digitalwelt, die keinen Verlust kennen und Gedächtnis desavouieren, ist Erinnerung die Unruhe, die in Körpern kreist. Sie klaubt im Hüpfen zusammen und bewegt sich im anarchischem Treiben.
In der Erinnerung wie im Gedächtnis bewegen wir uns also auf Schollen. Im einen wie im anderen fischen wir das und jenes aus einem unbestimmten Ganzen und holen das Einzelne aus dem Vergessen. Bilder, Wörter, Namen, Bauten. Selbst wenn wir sie verknüpfen und zu Zusammenhängen verdichten, sind sie Unterbrechungen dessen, was verloren geht, was aus dem Archiv der Geschichte fällt. Erinnerung ist demnach auch Störung. Sie unterbricht das schleichende Gleichgewicht des Vergessens und treibt einen Keil in sein „Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden“ (Nietzsche). Genauso unterbricht sie aber auch bewährte Erinnerung, die dem Erinnern im Weg steht, und zerschlägt sie, wenn die Voraussetzung für das Erinnern das Vergessen ist.
Wo das poetische Wort als außerordentliches zur Sprache kommt und mit Geschichten Geschichte erzählt, ist es verdichtete, ist es subversive oder unerhörte Erinnerung.
Was wird geschichtlich? Und wie? Wie wird, was die Erinnerung als Geschehen festhält, zur Geschichte? Die Frage nach dem Was führt uns unter anderem zur Literatur und die Frage nach dem Wie zur Form, in der unsere Erfahrung und unser Wissen mit Vergangenem poetisch verwandelt werden. Die Unterbrechung findet, wenn wir von Literatur reden, auf sprachlicher Ebene statt. Sie quert das Gewöhnliche, unterläuft das pragmatische und unterbindet das kommunikative Handeln, in dem die organisierte Rationalität sich äußert. Wo das poetische Wort als außerordentliches zur Sprache kommt und mit Geschichten Geschichte erzählt, ist es verdichtete, ist es subversive oder unerhörte Erinnerung. „Stören Sie die Sprache ein wenig,“ ruft uns Friederike Mayröcker zu.
was aus der Erinnerung zur
was aus der Erinnerung zur Geschichte wird, wird deswegen noch lange nicht "geschichtlich" d.h. wird in die Geschichtsschreibung aufgenommen.