Society | Salto Gespräch

„Gewalt im mehrfachen Sinne“

Eva Rabanser und Heidi Ulm sind Selbstvertreterinnen im Monitoringausschuss. Warum die Aufgabe für die Barrierefreiheit im Land wichtig ist und wo es Nachholbedarf gibt.
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Foto: Privat
Frau Rabanser, Frau Ulm, Wie kann man sich die Arbeit der Selbstvertreter:innen im Monitoringausschuss vorstellen? Welches sind konkrete Beispiele für die Tätigkeit?
 
Eva Rabanser: (links im Bild) Ich denke, besonders wenn man sich auf die Selbstvertretung fokussiert, ist das auf jeden Fall notwendig, dass in dem Bereich Personen arbeiten, die selbst betroffen sind, weil sie ein ganz anderes Verständnis haben. Im Monitoring-Ausschuss geht es vor allem um die Überprüfung, dass die Barrierefreiheit und bestimmte Gesetze eingehalten werden. Dass alles, so gut es geht, funktioniert und Menschen mit einer Beeinträchtigung so autonom sein können, wie möglich. Bei uns im Monitoringausschuss sind verschiedene Selbstvertreter:innen: Leute mit Sehproblemen, wie ich, Leute mit Hörproblemen oder mit körperlicher Beeinträchtigung… Die Bedürfnisse sind natürlich immer andere, weswegen es wichtig ist, dass aus jedem Bereich jemand als Vertreter da ist. Ein Rollstuhlfahrer etwa braucht eine Rampe, mir bringt das zum Beispiel nicht viel. Ich brauche eher etwas Taktiles oder Akustisches.
 
Es ist oft Millimeterarbeit, die vielleicht erst in 20, 30 Jahren Früchte trägt. (Ulm)
 
Heidi Ulm: Ich darf etwas hinzufügen, als die etwas kritische Stimme im Ausschuss. Die Arbeit ist sehr spannend und hilfreich, weil man aus seiner eigenen Komfortzone und auch aus dem eigenen Wissensbereich hervorkommt. Man kennt oft nur die eigenen Bedürfnisse und gar nicht die der anderen. Man ist immer in seiner eigenen Bubble drin, das gilt nicht nur für Menschen ohne Behinderung. Grundsätzlich ist die Arbeit aber auch sehr mühsam und schwierig, da wir oft eine rein repräsentative Aufgabe haben, oder, wie Eva gesagt hat, Dinge kontrollieren. Wir haben nicht die Möglichkeit, Dinge schnell zu verändern. Wir wissen nunmal, dass die Politik langsam ist. Es ist oft Millimeterarbeit, die vielleicht erst in 20, 30 Jahren Früchte trägt. Silvia, die heute auch gern dabei gewesen wäre, konnte nicht, weil auch gerade in Südtirol ein Assistenzproblem herrscht. Ihre Aussage ist, dass wir das eben oft auch für kommende Generationen machen.
 
Rabanser: Oft ist die Bürokratie ein Hindernis. Wenn man eine Kleinigkeit umsetzen will, muss man in Rom nachfragen und auf ein Okay warten. Das ist ein Riesenproblem. Es ist schwierig, es allen recht zu machen: Ich bin zum Beispiel auch im Verwaltungsrat des Blindenzentrum St. Raphael. Es geht etwa um eine Leitlinie am Boden, wie sie erst am Grieser Platz neu gemacht wurde. Da gibt es immer wieder Leute von den angrenzenden Geschäften, die sich darüber aufregen. Zuerst habe ich gar nicht verstanden warum, als ich nachgefragt habe, war es wegen der Bauarbeiten. Da ist es dann schwierig etwas umzusetzen.
Oder etwa die Sprachausgabe bei der SASA, wie oft habe ich da schon kommuniziert, dass das bitte in jedem Bus funktionieren sollte. Das funktioniert in fast jeder Stadt, in Innsbruck etwa ist das nie ein Problem. Bei uns sind die Ansagen der Haltestellen entweder so leise, dass man nichts hört, oder ganz aus. Die Begründung ist dann immer, dass Busfahrer abgelenkt wären, oder die Anrainer sich beklagen wegen Lärmbelästigung. Für mich ist Barrierefreiheit etwas, das jedem weiter hilft: Wenn jemand etwa nicht aus der Gegend ist, ist er auch etwas orientierungslos, wenn er oder sie mit dem Stadtbus fährt.
 
 
Braucht es da mehr Solidarität von Nicht-Betroffenen, damit durch eine größere Interessengruppe mehr voran geht?
 
Rabanser: Es fehlt sicher gerade an Sensibilität. Bei der jüngeren Generation wird das immer besser; Vom Blindenzentrum aus können wir viel in die Schulen gehen und aufklären. Da wissen viele noch gar nicht, dass es so etwas gibt und das ist auch verständlich, weil man jetzt nicht jeden Tag auf der Straße einen Mensch mit Stock sieht. Ich denke aber schon, dass es in Südtirol überall und allgemein etwas an der Solidarität fehlt.
 
Ulm: Ich glaube das auch. Oft gibt es sie kurzfristig, wie wir das etwa in der Corona-Pandemie gesehen haben, aber langfristig achtet man eher auf das eigene Wohl. Viele wissen auch nicht Bescheid und - wie Eva gesagt hat - wenn sie hören, was alles schief läuft, sind sie im ersten Moment ganz verwundert. Im Umweltbereich spricht man von Greenwashing und ich wüsste nicht, wie man das in Bezug auf Menschen mit Behinderung nenne ließe: Oft wird damit geworben, dass etwas barrierefrei wäre, was dann nicht der Fall ist, oder auch sehr viel Show darum gemacht. Man muss einen Kompromiss finden zwischen „Wir wollen helfen.“ - politisch und organisatorisch, etwa - und dem Fall, wo dann alles schön und vorteilhaft dargestellt wird.
 
Das haben noch zu wenige verstanden, dass das Soziale im Grunde alles ist. (Rabanser)
 
Stichwort Corona: Was lief in Südtirol in der Pandemie schief?
 
Ulm: Am Ende sollen Menschen wieder arbeiten können. Die Behindertenwerkstätten sind alle geschlossen und nicht nur das.
 
Rabanser: Am Anfang der Pandemie hieß es, es würde zu einem Umdenken kommen, was das Soziale anbelangt. Aber mir scheint es das Gegenteil bewirkt zu haben, dass die Menschen noch ängstlicher geworden sind, was nach wie vor so ist. Da hat niemand mehr an Menschen mit Handicap gedacht: Es waren andere Probleme im Fokus, nicht die Werkstätten und die Freizeitgruppen.
 
Ulm: Es sind bis heute noch viele Einrichtungen in Südtirol geschlossen, weil Personal fehlt, oder strukturelle Gegebenheiten die falschen sind. Da fehlt dann wieder das Geld, weil wir im sozialen Bereich sind.
 
Rabanser: Das haben noch zu wenige verstanden, dass das Soziale im Grunde alles ist.
 
Wie geht es mit der Kampagne „Auf Augenhöhe“ zum Thema Gewalt an Menschen mit Behinderung voran? Welches Feedback konnten Sie sammeln?
 
Ulm: Es ist ein großer Aufwand, eine Kampagne auf die Beine zu stellen, es schafft aber schon viel Bewusstsein. Dennoch ist es schwer als Monitoringausschuss diese Arbeit zu machen, da viele nicht wissen, dass es den Ausschuss gibt. Man geht unter in den großen Medien, da versuchen wir unser bestes zu tun. Die Beispiele sind zum Teil erschreckend…
 
Rabanser: …aber das ist einfach die Realität. Es gehen auch nicht alle gleich mit Kritik um. Natürlich erhält man auch die Rückmeldung, man rücke alles in eine schlechtes Licht. Wir wollen da niemanden in die Pfanne hauen.
 
Ulm: Bei einer Kampagne, die Negatives berichtet ist es so, dass man gewissen Leuten auf die Füße tritt. An sich haben wir aber gute Rückmeldungen bekommen, auch wenn die meisten davon bei Christian, im Büro, eigegangen sein dürften. Wir brauchen aber Hilfe von den Medien, die Sichtbarkeit ist da sehr wichtig.
 
 
Was kann man, außer Bewusstsein zu schaffen, gegen Gewalt an Menschen mit Behinderung unternehmen?
 
Ulm: Es ist ein statistischer Fakt, dass wir einfach angreifbarer sind. Das ist, wie wenn man sagt, dass Frauen statistisch gesehen wahrscheinlicher von Gewalt betroffen sind. Menschen mit Beeinträchtigung, die auch noch weiblich sind, sind daher mehr betroffen. Generell haben Menschen, die auf intensive Pflege angewiesen sind, dann nicht mal eine Wahl, weil das Assistenzproblem in Südtirol nach wie vor da ist.
Es gibt für die persönliche Assistenz noch kein Berufsbild, was wir im Monitoringausschuss auch voranbringen wollen. Persönliche Assistenz bringt jedem - und ich meine jedem - etwas. Vor zehn Jahren gab es noch kein Berufsbild für Tagesmütter. Das ist der erste Schritt zur Lösung, wenn es für die persönliche Assistenz ein Berufsbild gibt und dadurch auch politische und gesetzliche Regelungen, sowie bessere Konditionen. Durch die prekäre Situation haben Personen, die auf Assistenz angewiesen sind, nicht die Wahl jemanden zu finden, dem sie vertrauen. Das ist dann „Gewalt“ im mehrfachen Sinne. Er oder Sie kann tun, was immer sie wollen und man kann nicht mal absagen, weil man abhängig ist.
Was außerdem schwierig an dieser Kampagne ist, es sind alle Beispiele persönlich, man muss aber dem Datenschutz Rechnung tragen. Wenn man sich zum Thema Gewalt äußern möchte, ist das immer schwierig. Wenn man etwas melden oder reklamieren möchte, dann wird man dadurch noch einmal angreifbarer. Natürlich ist das oft anonym, aber trotzdem: Man muss hingehen, die Kraft haben und das sichtbar machen. Es ist dann oft so, dass Menschen mit Beeinträchtigung auch noch andere Probleme und keinen Nerv oder keine Zeit mehr dafür haben.
 
 
Gibt es Wünsche, die nicht an die Politik, sondern an die Zivilgesellschaft zu adressieren sind? Was steht dort an erster Stelle?
 
Rabanser: Ich bin der Meinung, dass es so, wie man in den Wald hinein ruft, auch zurück kommt. Die meisten Menschen sind hilfsbereit, aber es wäre schön, wenn man allgemein offener wäre und nicht nur das Äußere sehen würde. Oft gibt es auch Stigmatisierung: Wenn jemand einem Blinden begegnet und der einen schlechten Tag hatte, dann heißt es schnell, die Blinden seien alle aufbrausend. Das ist oft so. Man muss verstehen, dass auch Menschen mit Beeinträchtigung alle ihren eigenen Charakter haben. Wir sind immer noch normale Leute, nur dass eben das Problem da ist. Das vergessen die Menschen gerne und bei ihnen ist es dann der Blinde.
 
Ulm: Was ich mir wünsche ist etwas mehr Menschlichkeit, gerade jetzt mit den vielen Krisen. Auch, dass nicht das Blaue vom Himmel versprochen wird. Ich bin der Ansicht, dass es langfristige Veränderungen braucht, statt dass ein kleines Fest ausgerichtet wird, oder Fotos von lachenden Menschen präsentiert werden. Es braucht konkrete Veränderungen, etwa auf Gesetzesebene und ein Assistenzsystem wie in Deutschland oder Österreich. Und, natürlich, dass Vorurteile abgebaut werden. Es gibt tolle Projekte, wo zusammengearbeitet wird, wo zum Beispiel ein Rollstuhlfahrer den Berg hinaufgetragen wurde, weil es sein Wunsch war und das Freunde waren. Ich finde diese Projekte schön, aber es sollte sie am Ende nicht mehr brauchen, weil strukturell weniger Hindernisse da sind.
 
Eigentlich sollte es aber gar nicht unsere Aufgabe sein, für unsere Rechte zu kämpfen. Es sollte selbstverständlich sein. (Ulm)
 
Wie käme man an diesen Punkt, an dem weniger Hindernisse da sind?
 
Rabanser: Das ist natürlich komplizierter, bürokratischer. Wenn man sagt, es solle sich etwas verändern, dann muss man schon genau wissen, was. Das ist die Sache mit Projekten: Einer hat eine Idee, aber es braucht dann schon auch Ideen zur Umsetzung.
 
Ulm: Wir müssen auch lauter sein und uns mehr selbst unterstützen. Das ist bei vielen Gruppen so, man kämpft oft für das Gleiche und vergisst, dass man auf andere Leute auch zurückgreifen kann. Viele sind still und leise, weil der Kampf einfach mühsam ist.
 
Rabanser: Der Alltag ist schwierig, man hat vieles, an das man denken muss und das ist auch eine psychische Belastung. Dann ist es oft so, dass viele nicht mehr den Nerv haben, etwas zu organisieren. Das ist oft der „Nachteil“ an Selbstvertretern: Sie sind oft so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass das reicht. Man muss auch die akzeptieren, die still sind.
 
Ulm: Wenn jeder so ist, dann geht nichts voran. Eigentlich sollte es aber gar nicht unsere Aufgabe sein, für unsere Rechte zu kämpfen. Es sollte selbstverständlich sein.
 
Rabanser: Aber das kann man auch gar nicht erwarten. Wenn wir selber für unsere Rechte kämpfen, wissen wir am besten, was wir brauchen. Der Präsident des Blindenzentrums, Nikolaus Fischnaller, meint auch immer: „Die, welche die Hilfe brauchen, müssen sie sich holen.“ Da bin ich seiner Meinung.
 
Ulm: Viele werden auch durch die Eltern zu sehr unterstützt und dadurch in eine „kleine Welt“ geholt.
 
Rabanser: Die Situationen sind da oft unterschiedlich, auch wenn ich das nicht unterteilen will. Wir sind zwar nicht alle gleich, aber doch alle Menschen, es machen oft Betroffene und Nichtbetroffene Fehler. Die Betroffenen sind oft zu leise, oder wissen nicht, wie sie etwas umsetzen wollen. Die Nichtbetroffenen schauen oft weg.
 
Es sollte auch normal sein, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung, die offen sichtbar ist, in der Politik sind. (Rabanser)
 
Sollte der Aktivismus von Betroffenen seinen Ausgang nehmen?
 
Ulm: Ich denke schon, dass wir die Forderungen stellen sollten. Da wir am besten wissen, was wir wollen. Er soll aber auch in der breiten Gesellschaft Unterstützung finden, denn wie Eva schon gesagt hat: Barrierefreiheit ist für alle da. Ich denke, es ist nur richtig, dass man nicht über Menschen mit Beeinträchtigung spricht, sondern mit ihnen und immer im engen Austausch.
 
Rabanser: Es sollte auch normal sein, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung, die offen sichtbar ist, in der Politik sind. Die eigene Betroffenheit ist doch etwas anderes und da können Politiker und Politikerinnen noch so lange reden. Die wirklichen Bedürfnisse bekommt man durch Selbstbetroffenheit und das eigene Leben mit. Beispiele, wie aus der Kampagne, in denen nicht der Mensch selbst, sondern eine Begleitperson angesprochen wird, finde ich immer schrecklich. Oft ist das die Unwissenheit, aber da fühlt man sich als Betroffene wie ein Depp.
 
 
Gibt es besondere Umgangsformen? Wie geht man auf einen betroffenen Menschen richtig zu?
 
Rabanser: Einfach hin gehen und kommunizieren. Das ist gar nicht schwer. Wenn man etwa einen Blinden, mit weißem Stock sieht, weiß jeder: Der sieht nicht. Da gibt es schon mal die Situation, dass diese Menschen jemand über die Straße bringt, obwohl sie gar nicht müssten. Vielleicht hat derjenige auch einfach auf jemanden gewartet. Man kann ja vorher fragen. Ohne Komplikationen, oder sich lange zu fragen „Dieser Mensch hat eine Beeinträchtigung, da muss ich so oder so vorgehen…“ Wir sind normale Leute, da kann man grüßen und fragen, ob jemand Hilfe braucht oder irgendwo hin muss. Etwa auch wenn man fragt „Wieviel siehst du genau?“, oder „Was hast du genau?“, dann ist das auch kein Problem. Da tritt man nicht ins Fettnäpfchen, das ist kein Tabuthema.
 
Ulm: Es ist wichtig, offen und ehrlich zu sein. Wenn man fühlt, dass einen die Situation überfordert, dann ist es besser, man sagt das. Es ist ehrlicher und authentischer als etwas anderes zu sagen. Wir alle können reden und auch mit Personen, die verbal vielleicht in gewisser Weise beeinträchtigt sind, kann man reden, statt sich an den gesetzlichen Vertreter zu wenden. Sonst kann man sich auch entschuldigen, wenn man das Gefühl hat, etwas Falsches zu sagen oder gesagt zu haben. Man sollte ins Gespräch kommen. Teilweise reden wir gern über diese Sachen, teilweise auch nicht.