Politics | Euregio

Alpinien revisited

Wie der Europäischen Union fehlt auch der Tiroler Euregio die emotionale Bodenhaftung. Das schafft aber Raum zum Nachdenken über ein Utopia wie Alpinien.
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Von Peter Plaikner

 

Die Westachse gerät zur Restachse. Das liegt einerseits an der parteipolitischen Umfärbung ihrer Zulaufstrecke in Oberösterreich. Das kommt andererseits von der flüchtlingsbedingten Entfernung Salzburgs von Tirol. Schwarzblau und Grenzstau auf der nationalen Horizontale stärken die Stellung der regionalen Vertikale. Doch wie der Europäischen Union fehlt auch der Tiroler Euregio die emotionale Bodenhaftung. Das schafft aber Raum zum Nachdenken über ein Utopia wie Alpinien.

Neben dem steinigen Steig vom Verstand zum Gefühl – oder umgekehrt – wirkt der Saumpfad vom Hirngespinst zur Kopfgeburt geradezu asphaltiert. Das gilt für die Entwicklung der Montanunion über die EWG und EG bis zur EU. Darunter leiden die Deutschen bei ihrer Wiedervereinigung in westöstlicher Uneinigkeit. Dies spüren die Tiroler und Trentiner mit ihren interregionalen Bemühungen zwischen Scharnitz und Gardasee. „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Diese bald hundert Jahre alte Job-Description des Soziologen Max Weber spüren die Landeshauptleute dies- und jenseits des Brenners bei keinem Thema stärker als bei jenem der grenzübergreifenden Integration. Es wirkt geradezu als Omen, dass „Politik als Beruf“ – aus dem der vielzitierte Satz stammt – just in jenem Jahr 1919 erschienen ist, als per Vertrag von Saint Germain Südtirol Italien zugeschlagen wurde. Seitdem ist der Weg (zurück) das (erste) Ziel; für Volksvertreter in Bozen, Meran, Innsbruck und – auch Wien.

„17 Jahr‘, blondes Haar: So stand sie vor mir.“ Udo Jürgens‘ Schlager passt sogar in der Beschreibung des Kopfbewuchses gut zur 1998 gegründeten Europaregion Tirol–Südtirol–Trentino, wo traditionell „deutsch“ und nicht „österreichisch“ den kleinen Unterschied definiert. Klischees von Hell- und Dunkelhaarigen wie -häutigen als Ausweis von Andersartigkeit sind hartnäckiger, als die Verankerung des Europäischen Verbunds territorialer Zusammenarbeit (EVTZ) in der Bevölkerung gelingt. Immerhin vier Jahre schon genießt die Euregio eine solche Institutionalisierung im EU-Rahmen. Das gemeinsame Brüsseler Büro der drei Länder aus zwei Staaten feierte unterdessen bereits seinen 20. Geburtstag. Dennoch gilt bis heute die zweite Refrainzeile: „17 Jahr‘, blondes Haar: Wie find‘ ich zu ihr?“

Der Wettbewerb der Großregionen

Zumindest die Suche nach der Nähe wird heute zwangsläufig intensiviert. Denn bei der Orientierung Nord(!)tirols entlang einer (partei)politischen Westachse ist Sand ins Getriebe geraten. Seit dem Quasi-Koalitionseintritt von Blau im proporzgeprägten Oberösterreich fehlt den schwarzgrünen Regierungen diesseits des Mondsees der gleichfarbig verbündete Ansprechpartner. Auf ihren ursprünglichen Kern reduziert ist die Westachse aber machttechnisch nur eine Restachse. Niederösterreich allein hat so viele Einwohner wie Tirol, Salzburg und Vorarlberg zusammen. Hinzu kommt die Schwächung des Zusammenhalts durch die aktuelle Flüchtlingskrise. Die Staus an beiden Grenzen zum deutschen Eck entfernen die Nachbarländer wieder mehr voneinander. Das fördert auch die Salzburger Ausrichtung nach Wien und die Tiroler Orientierung – wohin?

Die Euregio hat gleich wenige Einwohner wie die Restachse – rund 1,6 Millionen. Im Wettbewerb der Regionen trifft sie im Norden auf Bayern (12,5 Mio.) und Baden-Württemberg (10,6 Mio.) und im Süden auf die Lombardei (9,9 Mio.) und das Veneto (4,9 Mio.) als homogene Standort-Mitbewerber. Dazu kommen als weitere Konkurrenten die Bodensee-Euregio (3,6 Mio.) im Westen und das Senza-Confini-Projekt im Osten. Es verfügt auch ohne die geplante Beteiligung Sloweniens mit Kärnten, Friaul-Julisch-Venetien und dem Veneto schon über eine Bevölkerung von 6,5 Millionen. Abgesehen von den Hürden, aus der Kopfgeburt des EVTZ eine Herzensangelegenheit zu machen, könnte die Zukunftsfähigkeit des Integrationsprojekts an Inn, Etsch und Eisack an mangelnder Größe scheitern.

Das Naheverhältnis der Minderheiten

Dies gilt durchaus auch im übertragenen Sinne. Während das deutsche Eck in der österreichischen Westachse heute mitten in der Union wieder die Bruchstellen der europäischen Grenzenlosigkeit demonstriert, gewinnt die südliche Parallelstrecke nicht nur als Gedankenspiel an Bedeutung. Vom Puster- ins Drautal: Das wird seit Eduard Wallnöfers Spruch, allfällige Osttirol-Begehrlichkeiten von Kärnten mit dem Aufmarsch von 10.000 Schützen zu beantworten, nicht nur aus Innsbruck zu wenig als zweite interregionale Integrationsmöglichkeit neben Wipp- und Eisacktal betrachtet. Auch Bozen hat schon infolge seiner geographischen Lage das Visier stärker auf die Nord-Süd-Achse eingestellt.

Vollkommen unbeachtet im Bundesland Tirol bleibt jedoch ein anderes Nahverhältnis der Südtiroler zu Kärnten. Nicht von ungefähr gaben sich dort im November Landeshauptmann Arno Kompatscher und sein Vorgänger Luis Durnwalder geradezu die Klinken in die Hand: Die Südtiroler Autonomie ist das Vorbild der Kärntner Slowenen. Da sich deren Gesprächssituation infolge der rotschwarzgrünen Regierung in Klagenfurt gegenüber der Haider-Herrschaft grundlegend geändert hat, können diese freundschaftlichen Kontakte nun weit über die Minderheitenfragen hinausgehen. Aus der ähnlichen Gegnerschaft der Sammelpartei SVP zu den Südtiroler Freiheitlichen ergeben sich ebenso weitere Anknüpfungspunkte wie durch den Ausbau der Pustertaler Staatsstraße. Die Autofahrt Innsbruck–Klagenfurt war in den jüngsten Monaten via Franzensfeste schneller zu bewältigen als über Salzburg.

Der Traum von Alpinia bis Venedig

Unterdessen hinkt die Europaregion Senza confini dem Erfahrungsvorsprung der Tiroler Euregio noch weit hinterher. Das gewendete Kärnten steht vor allem in seinen Bemühungen gegenüber Slowenien erst dort, wo Tirol und Italien schon vor vielen Jahren waren. Ihm fehlt zudem die wirtschaftlich essentielle Nordanbindung an Deutschland. Auch deshalb stellt sich erneut jene Frage nach einem größeren Ganzen, für deren Beantwortung der Autor in diesem Magazin schon vor zwei Jahren bloß ungläubigen Hohn geerntet hat: Die beiden EVTZ Tirol–Südtirol–Trentino und Senza confini haben zusammen 8,1 Millionen Einwohner. Gemeinsam mit Salzburg hätte ein solches interregionales Projekt Alpinien oder Alpinia soviel Bevölkerung wie Österreich. Zwar ohne deutsches Eck, aber bis Venedig – das angeblich ohnehin seit Jahrhunderten auch auf Holzpfählen aus Südtirol steht.

 

Dieses Essay wurde ursprünglich publiziert auf https://www.6020online.at/.

 

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Benno Kusstatscher Thu, 12/17/2015 - 20:17

So charmant hat bis jetzt noch niemand von einem Großvenedig, nennen wir's (Triven... ehm) Quadroveneto geschwärmt, wobei der Traum von einem nur um der Masse Willen bis in die tiefste Ebene reichende Alpinia rein schon aus Sicht des daraus entstehenden Bevölkerungsungleichgewichts zu einem Alb entwickeln könnte.

Dies vorausgesetzt schlägt der Artikel aber in eine lang überfällige Kerbe. Die Größe fehlt uns wohl hauptsächlich im übertragenen Sinn, aber im eigentlichen auch. Dabei gibt es so viele Alpentäler, in welche Richtung man so ein Alpinien auch stretchen mag.

Thu, 12/17/2015 - 20:17 Permalink