Politics | Gastkommentar

Gedanken zur „Ausländer-Raus-Abstimmung“

Schwächt die Annahme der Volksinitiative gegen Masseneinwanderung in der Schweiz die Legitimation der Direkten Demokratie? Nein, sagt der Schweizer Naturwissenschaftler und langjährige Wahl-Südtiroler Remy Holenstein. Zwei seiner Argumente: Auch hinter grundfalschen Forderungen stehen zu lösende Probleme. Und: Patzer passieren auch in der repräsentativen Demokratie.

Zugegeben, die Annahme dieser Initiative war für uns intellektuelle SchweizerInnen eine ziemlich böse Überraschung, weil wir vielleicht zu stark den Umfragen vertrauten, die eine knappe Ablehnung voraussagten. Nun ist es anders gekommen und wir sind am Scherben zusammenkehren. Aber ist das auch ein Grund für vermehrte Zurückhaltung gegenüber Volks-Abstimmungen? Nein, sicher nicht. Im Gegenteil, selbst solche Ausgänge können weiterhelfen. Und sie helfen, Schwierigkeiten zu erkennen, so lange sie noch nicht ein Ausmaß wie in der repräsentativen Demokratien angenommen haben.

Was zeigen die Resultate der verschiedenen Kantone?

- Die fünfzig Prozent Zustimmung wurde nur möglich, weil eine nicht zu unterschätzende Zahl der Abstimmenden ein „Zeichen setzen wollten“ – unter der leider falschen Annahme, dass die Initiative abgelehnt werde. Diese Feststellung darf aber nicht davon ablenken, dass eine starke Minderheit sich irrational bedroht fühlt.

- Es fällt auf, dass innerhalb der Schweiz recht große Unterschiede sichtbar wurden. Die Westschweizerinnen stimmten mehrheitlich „Nein“ und die Tessiner mehrheitlich „Ja“.

- Jene Gemeinden mit hohem Ausländeranteil stimmten mehrheitlich „Nein“. Die ländlichen Gebiete, welche die Ausländer fast nur über die SVP-Propaganda kennen, fürchten sich vor diesen und wollen sie mit dem „Ja“ ausweisen.

- Es zeigte sich erneut, dass eine hohe Stimmbeteiligung kein Garant für eine ausgereifte Entscheidung ist. Man kann das so ausdrücken: Eine hohe Stimmbeteiligung bewirkt „Bauchentscheide“ statt „Kopfentscheide“.

- Befragungen zu dieser Abstimmung zeigen, dass jene, die sonst kaum zur Urne gehen mit „Ja“ stimmten – ohne zu wissen, was im Abstimmungstext steht und was dieser tatsächlich bewirken wird.

- Deshalb gibt es etliche SchweizerInnen, die froh wären, wenn all jene der Abstimmung fernbleiben, die sich nicht wirklich mit der Vorlage befasst haben.

Was gibt es aus dieser Abstimmung zu lernen ?

Obschon die weitgehend Uninformierten die Informierteren überstimmten, möchte ich keine Abstriche am schweizerischen Abstimmungsrecht zulassen. Insbesondere sollen alle mündigen BürgerInnen weiterhin an allen Abstimmungen teilnehmen dürfen (ohne zu müssen).

Das begründe ich so:

- Ich beobachte, dass die Parlamente in Europa oft ähnlich tragische Beschlüsse fassen, wenn es um Zuwanderer aus dem Süden geht.

- Deshalb bin ich überzeugt, dass diese Abstimmung in den umliegenden Ländern nicht wesentlich anders ausgefallen wäre.

- Einsame Regierungsentscheide schaden mehr als sie nützen. Deshalb gilt es stets dafür zu sorgen, dass das Volk mitkommt und mitzieht.

- Die Abstimmung hat auch nützliche Wirkungen:

o Die Aufgeklärteren müssen sich nun die Frage stellen, ob sie richtig argumentierten ? Und warum ihre Argumente die „einfachen Leute“ nicht erreichen?

o Bezüglich der moralischen Anliegen müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass in den vorausgehenden Gesprächen praktisch nur über wirtschaftliche Aspekte gesprochen wurde. Warum haben sie die ethische Anliegen ausgeklammert?

o Warum durfte die SVP ungebremst und unwidersprochen ihre Lügen verbreiten ?

o Warum lässt man zu, dass immer mehr Misstrauen gestreut wird und so der Spalt zwischen Informierten und Nichtinformierten sich vergrößert.

o Warum vermeiden die bürgerlichen PolitikerInnen tunlichst, darauf zu verweisen, dass die Schwierigkeiten, welche die ärmeren Schichten in der Schweiz plagen, nicht durch die Ausländer, sondern durch den Kapitalismus, die Gier und die Bequemlichkeit der eigenen Leute verursacht werden?

Aus diesen Fragen ergeben sich auch mehrere Antworten und Verbesserungsvorschläge, die jetzt aufgegriffen und umgesetzt werden müssen. Darüber hinaus ist mir in der derzeitigen Lage vor allem wichtig zu betonen, dass die Haltung jener Politiker nicht zukunftsfähig ist, die noch immer meinen: „Wir sind die gebildeten Volksvertreter und müssen für das ungebildete Volk entscheiden, weil sonst nichts vorwärts geht.“

Wir BürgerInnen wollen aber oft nicht, dass es so vorwärts geht wie die Abgeordneten wollen, denn das führt zu starken Schäden. Deshalb ist es wichtig, dass wir bei Bedarf die „Notbremse“ ziehen können – dann, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich mit einer Entscheidung des Parlaments nicht abfinden kann. Initiativen und Referenden sind solche Notbremsen. Sie werden nicht grundlos gezogen, weil sie viel Aufwand und Geldmittel erfordern.

Selbst dann, wenn eine Initiative etwas fordert, das unmoralisch oder grundfalsch ist, muss eingesehen werden, dass dahinter ein Problem steckt, das gelöst werden will.

Im Hinblick auf die Abstimmung vom vergangenen Sonntag in der Schweiz bedeutet das: Selbst dann, wenn eine Initiative etwas fordert, das unmoralisch oder grundfalsch ist, muss eingesehen werden, dass dahinter ein Problem steckt, das gelöst werden will. Das ist wichtig, weil bei Nichtbeachtung die Schäden schnell anwachsen.

Welchen Weg die Politik jetzt einschlagen wird, ist schwer voraussehbar. Denn die GesetzmacherInnen stehen vor dem Problem, dass die Initiative Regelungen verlangt, die im Widerspruch zu den von der Schweiz unterzeichneten Menschenrechten wie auch zu den bilateralen Verträgen mit der EU stehen.

Wir Nein-Stimmenden hoffen, dass die EU sich auf keinen faulen Kompromiss mit der Schweiz einlässt. Dann stehen für die schweizerischen Behörden zwei Möglichkeiten offen. Entweder sie setzen die geforderten Regelungen rasch um, oder sie schieben sie „auf die lange Bank“. Setzen sie sie rasch um, dann können sich schon nach kurzer Zeit große Nachteile zeigen, ohne dass die behaupteten Vorteile eintreten. Das öffnet Tür und Tor für die Rückkehr zum Zustand vor der Abstimmung.

Es liegt an uns, ein ernsthaftes Überdenken unserer Grundwerte anzuregen

Nur – wir wollen keine Rückkehr zum jetzigen Zustand, denn dieser ist nicht zukunftsfähig. Deshalb wünsche ich mir, dass die Regierenden die nächsten Monate und Jahr dazu nützen, um mit dem Volk in einen ernsthaften Dialog darüber zu kommen, wie künftig das Gesamtinteresse wieder vermehrt gegenüber den Individualwünschen in den Vordergrund gerückt werden kann. Es liegt an uns, ein ernsthaftes Überdenken unserer Grundwerte anzuregen. Nur so können wir erreichen, dass in den Parlamenten und der Öffentlichkeit das, was das Volk will, zum Thema wird statt dass fast nur über wirtschaftliche Anliegen geredet wird.

Abschließen möchte ich mit einem Vorschlag, den ich nicht ernst meine. Aber ich hoffe, dass er ebenfalls zum Weiterdenken anregt. Ich schlage vor, dass alle Abstimmungswilligen nachweisen müssen, dass sie den Abstimmungstext gelesen und verstanden haben. Doch ich nehme den Vorschlag sofort wieder zurück, weil wir dann alle Parlamente abschaffen müssten. Oder kann mir jemand auch nur einen einzigen Politiker zeigen, der alle seine Unterlagen gelesen und obendrein auch noch verstanden hat? 

 

Remy Holenstein ist Naturwissenschafter, der sich seit Jahren hauptzeitlich mit Themen aus den Bereichen „Politik und Ethik“ befasst. Er lebte 17 Jahre im Vinschgau, wirkte damals in verschiedenen Vereinen und Verbänden und ist besonders mit seiner wertvollen Konzeptarbeit im Bereich Verkehrsplanung und Landwirtschaft und menschlich mit seinem konzilianten Wesen in  Erinnerung geblieben. 

Bild
Profile picture for user Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler Tue, 02/18/2014 - 22:59

Der Artikel ist lesenswert, aber der Titel ist falsch. Es war keine "Ausländer-raus-Abstimmung", sondern es ging nur darum, die Zuwanderung (derzeit wächst die Bevölkerung der Schweiz im Jahr um ein Prozent) durch Kontingentierung etwas zu reduzieren).

Tue, 02/18/2014 - 22:59 Permalink
Bild
Profile picture for user Oskar Egger
Oskar Egger Wed, 02/19/2014 - 07:07

Ja der Titel ist falsch und mit den Schlüssen bin ich auch nicht einverstanden. So viel ich weiß, ist der Prozentsatz an Zuwanderern in der Schweiz um ein Vielfaches höher als in anderen Ländern und man kann den Unmut nicht immer auf fehlende Werte, Desinformation und kulturelle Armut schieben. Ich meine, weil ich es selbst beobachtet habe, daß es mehr als notwendig ist, zuerst einmal in Integration zu investieren. Eine begrenzte Einwandererzahl kann leichter mit den Regeln der Demokratie vertraut gemacht werden. Die Präpotenz und Arroganz, die alltäglich zu sehen ist, scheint in einem Gastland besonders unangebracht und muß auch auf die Folgen hin überprüft werden. Ich finde es unterliegt dem Verdrängungsmechanismus, daß derjenige, der sich traut, sein Unwohlsein auszudrücken, als menschenfeindlich bezeichnet und bestenfalls ins rechte Lager gerückt wird. Die Schweizer, arm oder nicht arm, hochgebildet oder mit Volksschulabschluß, haben sich klar ausgedrückt. Diese Meinung ist auch bei uns ähnlich vertreten. Es liegt an der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, nicht zuletzt durch ein konsequentes, nachhaltiges Einhalten der demokratischen Gesetze, auch der im strafrechtlichen Bereich, damit sich jeder Mitbürger frei, sicher und geschützt fühlen kann. Andernfalls, und im Hinblick auf das Wegschauen auch der Sicherheitsbehörden, heißt es für den Bürger eigentlich im Klartext "arrangiati".

Wed, 02/19/2014 - 07:07 Permalink
Bild
Profile picture for user Benno Kusstatscher
Benno Kusstatscher Wed, 02/19/2014 - 09:12

Der Artikel hebt Anspruch, "richtig" und "falsch" genau festlegen zu könne, wenn man sich nur den Abstimmungstext genügend verinnerlicht hätte. Auch für die Intellektuellen dürfte es ein Graustufen zwischen dem Schwarz und dem Weiß geben.
-
Was mir aber am Artikel besonders gut gefällt, ist die Schlussfolgerung, dass die Schweiz in sich kehren muss, im internen Dialog entweder Korrekturen der politischen Gangart vorzunehmen, oder sich die bisherige Gangart neu legitimieren zu lassen. Was die EU betrifft, haben sich die Schweizer eine Auszeit genommen, um ihre Sachen intern neu zu bewerten. Der Ball liegt bei der Schweiz, nicht bei der EU - auch wenn man natürlich auch außerhalb der Schweiz darüber sinnieren darf.

Wed, 02/19/2014 - 09:12 Permalink