Politics | Interview

Schützt der Rechtsweg die Natur?

Die unlängst genehmigte Reform der italienischen Verfassung zum Natur- und Umweltschutz stieß in ihrer letzten Version kaum auf Widerstand. Ein reines Lippenbekenntnis?
Blumenwiese
Foto: Othmar Seehauser

Anfang Februar hat die italienische Abgeordnetenkammer einer Verfassungsreform zugestimmt, die den Natur- und Umweltschutz explizit in der Verfassung verankert. Die breite Zustimmung sorgte nicht nur für Euphorie, sondern auch für Zweifel: eine weitere Reform, deren konkrete Auswirkungen sich im Sand verlaufen?

Salto.bz hat mit den beiden Wissenschaftlern der Scuola Superiore Sant'Anna di Pisa Riccardo Luporini und Alex Putzer gesprochen, die die rechtlichen und gesellschaftlichen Folgen und Möglichkeiten, die die Reform birgt, analysieren und die strategische Rolle der Rechtssprechung für den Natur- und Umweltschutz beleuchten.

 

Salto.bz: Durch die unlängst genehmigte Verfassungsreform wurden der Schutz der Umwelt, der Biodiversität und der Ökosysteme in der italienischen Verfassung verankert. Die Reform erlangte mit nur einer einzigen Gegenstimme in der Abgeordnetenkammer eine sehr breite Zustimmung und wurde auch im Ausland anerkennend gefeiert. Ein Zeichen dafür, dass sich die konkreten Auswirkungen in Grenzen halten werden?

Riccardo Luporini: Vorausgeschickt, dass diese Reform wirklich eine sehr wichtige Reform ist, habe auch ich Angst, dass aus dieser doch sehr breiten Unterstützung eine Art Gleichgültigkeit entstehen könnte. Ganz so, als ob ein immer besserer Natur- und Umweltschutz eine fast automatische Selbstverständlichkeit wäre. Dem ist aber nicht so. Hier muss gesellschaftlicher Druck aufgebaut werden, um den verfassungsrechtlich garantierten Schutz auch in konkreten Anwendungsbeispielen zu erzwingen. Da der Natur- und Umweltschutz Einschränkungen für andere Sektoren mit sich bringen wird, müssen wir uns erwarten, dass in der konkreten Anwendung der Reform in legislativen oder verwaltungstechnischen Akten auch kritische Stimmen zum Vorschein kommen werden. Aber genau diese Debatte kann durch die Reform angestoßen werden.

Alex Putzer: Die breite Zustimmung für die Reform war absehbar. Das Problem dabei ist aber, dass viele all das, was mit Umwelt und Natur zu tun hat, in einen Topf werfen und ihre platonische Zustimmung geben. Im Konkreten - wenn verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen werden müssen - sieht es dann aber oft anders aus. Auf gesellschaftlicher Ebene ist das ähnlich. Wichtig ist aber, dass der Staat durch diese Verfassungsänderung eine Vorbildfunktion übernommen hat.

 

Ein Weg, um Druck aufzubauen, ist die sogenannte Klimaklage. Bei dieser geht es um einen einklagbaren Klimaschutz, wobei sowohl private als auch öffentliche Körperschaften für ihre Tätigkeiten - oder vielfach das Unterlassen bestimmter Tätigkeiten - verklagt werden. Inwiefern fördert diese Reform den Zugriff auf den Rechtsweg bei Umweltfragen?

RL: Die Reform fügt sich nicht in ein Vakuum ein. Das heißt, Umweltfragen waren immer schon ein impliziter Teil der italienischen Verfassung und es hat auch vorher dementsprechende Rechtsurteile gegen private und öffentliche Akteure gegeben. Durch die Reform wurde der Umweltschutz aber explizit in der schriftlichen Verfassung verankert. Die Möglichkeit, private Wirtschaftsteilnehmer, aber auch den Staat oder andere Körperschaften rechtlich zu verfolgen, wird damit gestärkt.

 

Warum sollte ein Gerichtshof über die Klimapolitik eines souveränen demokratischen Staates wachen dürfen?

 

Die wohl bekannteste Klimaklage ist der Urgenda-Fall in den Niederlanden. Wie hat sich dieser Fall auf das nationale Rechtssystem und die öffentliche Meinung niedergeschlagen? 

RL: Damals haben rund 800 Bürgerinnen und Bürger den niederländischen Staat verklagt, da dieser seiner Verpflichtung, CO2-Emissionen zu verringern, nicht nachgekommen ist. Der höchste Gerichtshof der Niederlande hat den Klägern auf der Grundlage der nationalen und internationalen Rechtslage recht gegeben und den Staat dazu verurteilt, seine Emissionen innerhalb 2020 bedeutend zu verringern. Dieser hat daraufhin Maßnahmen treffen müssen; unter anderem wurden einige Kohlekraftwerke geschlossen. Das Urteil lieferte also einerseits einen konkreten Beitrag zum Natur- und Umweltschutz. Andererseits wurde so ein Präzedenzfall in der Rechtssprechung geschaffen, der auch außerhalb der Niederlande hohe Wellen schlug. Dabei gab es natürlich auch Kritik.

Die wäre?

RL: Urgenda hat im Namen aller Bürgerinnen und Bürger gesprochen. Es dürfte aber einige geben, die sich in der Klage nicht vertreten sahen. Diese Situation wirft natürlich Fragen auf: Warum sollte ein Gerichtshof über die Klimapolitik eines souveränen demokratischen Staates wachen dürfen? Sollten diese Fragen nicht der Regierung überlassen werden?

Apropos Vertretung: In Ländern wie den Niederlanden ist der Zugang zum Rechtssystem um einiges einfacher als in Italien, wo die Kläger*innen beweisen müssen, selbst Schaden genommen zu haben.

RL: Ja, das stimmt. Über die letzten Jahre konnte im Bereich der rechtlichen Verfolgung von Umweltdelikten aber ein Wandel beobachtet werden. Umweltorganisationen spielen hier heute eine große Rolle: Sie können das gemeinsame Interesse der Bürgerinnen und Bürger vor Gericht vertreten.

 

Alex, du beschäftigst dich damit, wie nicht nur die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch jene der Natur selbst vertreten werden können. Wie können wir uns das vorstellen?

AP: Die Rechte der Naur erkennen den Eigenwert der Natur an - unabhängig von deren Nutzen für die Menschen. Wir müssen sie also nicht schützen, weil wir sie brauchen oder weil sie so schön ist; sie hat eine immanente Daseinsberechtigung, die nicht vom Menschen abhängt. Verstöße gegen die Rechte der Natur - wie beispielsweise die Verschmutzung eines Flusses - können ähnlich wie bei der Klimaklage durch Vertreter und Vertreterinnen aus beispielsweise Natur- und Umweltschutzorganisationen vor Gericht gebracht werden.

Wie realistisch ist die Umsetzung der Rechte der Natur in Italien?

AP: Die Rechte der Natur sind nicht nur eine tolle Idee, viele Länder haben sie bereits umgesetzt, auch auf höchster Ebene: Um beim Thema zu bleiben, in Ecuador sind sie seit 2008 Teil der nationalen Verfassung. Sie finden auch in Kombination mit Klimaklagen statt: In Belgien läuft im Moment ein Rechtsstreit, bei der eine Natur- und Umweltschutzorganisation nicht nur im Namen der Menschen spricht, sondern sich auch auf das unabhängige Interesse von 82 Bäumen beruft. Sollten die Kläger erfolgreich sein, so könnte dieses Urteil einen Präzedenzfall in Europa schaffen, der die Rechte der Natur vorantreiben könnte. Auch im italienischen Parlament wurde bereits über das Thema diskutiert, aber nicht weiter verfolgt. Leider wurde, wie bereits anfangs erwähnt, alles in einem Topf geworfen. Dabei sind diese Feinheiten entscheidend, die Rechte der Natur würden ein ganz anderes (menschliches) Selbstverständnis erfordern.

Es geht hier also um einen Wandel, der sowohl das Rechtssystem als auch das Verhältnis der Menschen zur Natur betrifft.

AP: Genau. Die Rechte der Natur rücken von einem sogenannten anthropozentrischen Weltbild ab. Anders gesagt bedeutet das, dass nicht mehr nur der Mensch das Maß aller Dinge ist, sondern eben auch Tiere, Flüsse und Berge miteinbezogen werden.

 

Die Rechte der Natur sind nicht nur eine tolle Idee, viele Länder haben sie bereits umgesetzt.

 

Neben den oben genannten Beispielen gibt es auch in Italien einen konkreten Fall der Klimaklage, wobei der Staat von einigen Natur- und Umweltschutzorganisationen zur Verantwortung gezogen wird. Wie schätzen Sie die Chancen der Kläger ein?

RL: Der Fall, der als “giudizio universale” bezeichnet wird, ist dem niederländischen Urgenda-Fall sehr ähnlich: Der italienische Staat wird zur Rechenschaft gezogen, weil zu wenig getan wird, um die CO2-Emissionen im Sinne des Pariser Abkommens zu reduzieren. Die Chancen sind schwer einzuschätzen, aber es gibt gewichtige Präzedenzfälle in anderen Ländern, auch in Europa, welche in den letzten Jahren immer mehr Druck aufgebaut haben. Ich denke, dass die Möglichkeit auf jeden Fall existiert. Schon im Juni wird die nächste Audienz abgehalten werden, dann werden wir sehen, was passiert.

Ist der Schutz der Natur durch innovative Gerichtsurteile in einem demokratischen Staat erstrebenswert?

RL: Auf jeden Fall. Ich sehe diese Rechtsurteile nicht notwendigerweise als Anklage gegen den Staat, sondern als Einladung vonseiten der Bevölkerung, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen.

AP: Ich denke, dass dieser Trend das Gefühl einer immer breiter werdenden Bevölkerungsgruppe widerspiegelt: Privatpersonen, Politiker und Aktivisten haben sich jahrelang dafür eingesetzt, dass schützende Maßnahmen demokratisch umgesetzt werden. Jetzt, wo sich die negativen Folgen des Klimawandels immer deutlicher abzeichnen, müssen alle zur Verfügung stehenden Mittel genutzt werden, um den Schaden einzudämmen. Der Rechtsstreit ist eines dieser Mittel.

Ein anderes ist die rezente Verfassungsreform.

AP: Ja, sie ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es müssen aber viele weitere Schritte folgen. Dass wir noch lange nicht am Ziel sind, zeigt sich unter anderem darin, dass dieselbe Regierung, unter der diese Verfassungsreform im Sinne des Umweltschutzes beschlossen wurde, gleichzeitig nur 0,7 Prozent aller im Wiederaufbauplan (PNRR) vorgesehenen Mittel für den expliziten Natur- und Umweltschutz beiseitelegt. 0,7 Prozent!

 

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Josef Fulterer Mon, 02/21/2022 - 07:14

Zu viele Politiker verhalten sich, von der Parteidisziplin und den Interessenverbänden gesteuert, mit ängstlichem Blick auf ihre Umfragewerte und die nächsten Wahlen.
Eine Mandatsbeschränkung auf höchstens 2 Perioden, auch für die Hinterbänkler, würde die oportunischen Handaufheber / Knopfabstimmer vermeiden, die ein politisches Mandat als fein gepolsterte Lebensaufgabe sehen.
Beim Natur- und Umweltschutz, sowie erst recht beim Klimaschutz, müssten die Gerichte bei offensichtlichen Fehlentscheidungen den Mandatsverfall aussprechen, einschließlich der unangemessenen Ruhestandsregelungen für die Altmandatare, die 2/3 der Politiker-Entschädigungen ausmachen.

Mon, 02/21/2022 - 07:14 Permalink