Die Inselberge im Sterzinger Moos
Auf den Spuren mystischer Orte - Teil 3
Vor den Toren der Stadt Sterzing lag einst wild und ungezähmt eine große Auen- und Sumpflandschaft mitten im Tal, unheimlich und mysteriös.
Das einst größte Feuchtgebiet des Landes war durch einen gewaltigen Felssturz bei Stilfes entstanden, der nach dem Schmelzen der Eiszeitgletscher den Abfluss des Eisacks unterbrochen hatte. Als Mündungsgebiet der vielen Flüsse und Wildbäche war die Talweite zwischen Freienfeld und Sterzing daraufhin fortwährend mit Erd- und Steinmaterial angefüllt worden. Schließlich bahnte sich der Eisack einen neuen Weg durch das Tal und ließ eine einmalige Auenlandschaft mit einer mannigfaltigen und bezaubernden Artenvielfalt entstehen, durch die er sich in wunderschönen Mäandern schlängelte.
Gleich vier Hügel erheben sich aus den nassen Urgründen dieses Sterzinger Mooses. Vermutlich sind sie Teile eines zusammengehörenden Felsrückens, der sich unter dem Boden von Ost nach West fortsetzt und dessen höchst aufragenden Erhebungen einst von den Eiszeitgletschern rundgeschliffen wurden. Mit etwas Fantasie könnte man sie in ihrer Form und Anordnung durchaus als hervorstehenden Buckel eines schlafenden Drachen ansehen, der nur darauf wartet, aufgeweckt zu werden.
Die östlichste und größte dieser Erhebungen ist der Vogelbühel, nur wenig westlich davon erhebt sich der Hügel von Reifenstein mit der gleichnamigen Burg und der St.-Zeno-Kapelle. Noch weiter gegen Westen verschoben findet sich der Felsbuckel des Thumburger Bichls, und als letztes Glied der Kette erhebt sich der Kronbühel aus dem Talboden, kurz bevor der Bergfuß des Rosskopfs bei Thuins anzusteigen beginnt.
Alle vier Hügel wurden nachgewiesenermaßen schon seit frühesten Zeiten vom Menschen aufgesucht. Was mag ihnen durch den Sinn gegangen sein und was empfanden sie wohl, als sie auf diese Kuppen stiegen und von dort auf das weite Sumpfland blickten?
Der Vogelbühel bei Elzenbaum ist der höchste der vier Hügel. Er hat die Form eines langgezogenen Dreiecks, das mit seiner abgerundeten Spitze nach Osten zeigt. Machte Elzenbaum, das kleine Dorf zu seinen Füßen, schon öfters von sich als Fundort von Fibeln oder römischen Münzen reden, weiß man vom Vogelbühel bislang nur wenig zu berichten, doch sein Name ist ein Indiz für einen prähistorisch relevanten Ort. Kein sichtbarer Steig führt auf ihn, man kann ihn jedoch leicht vom Rande der Wiesen oder über seine Südseite erklimmen. In wenigen Minuten hat man die höchste Stelle erreicht. Unter hohen Fichten breiten sich hier weiche Moospolster aus, und wenn die Sonne durch die Baumkronen streicht, ergibt sich eine zauberhafte Stimmung. Auf den ersten Blick bietet der Vogelbühel, auch Vogeltenne und Vogelbichl genannt, außer seinem natürlichen Reiz keine großen Auffälligkeiten, und dennoch fühlt sich dieser Ort ganz urtümlich und besonders heimelig an. Bemerkenswert ist auch eine auffallend schöne Fruchtbarkeitsrutsche, die etwas versteckt an der Südseite des Hangs unter einer Kiefer liegt. Ihre Oberfläche ist vom vielen Hinunterrutschen richtiggehend poliert, sodass manche Stellen wie Edelsteine in der Sonne glänzen.
Der westliche Bruder des Vogelbühels ist der Burghügel Reifenstein, der größte dieses Hügelquartetts. Sein Name stammt von rifa ab, was Ufer bedeutet und somit auf seine Lage am Uferrand des Sterzinger Mooses hindeutet. Reifenstein besitzt nicht die Leichtigkeit des Vogelbühels, sondern wartet mit einer ernsthaften Gewichtigkeit und Schwere auf. Auch sein Erscheinen ist um ein Vielfaches wuchtiger: Da gibt es auf steilen Felswänden die stattliche Burg Reifenstein und am entgegengesetzten Ende des Hügels die kleine Kirche St. Zeno. Burg und Kapelle, Verkörperungen von weltlicher und geistiger Macht, liegen einander auf dem langgestreckten Hügelrücken direkt gegenüber. Nicht nur in ihrer Lage zeigen sie sich gegensätzlich, sondern auch in ihrer Funktion und in der Ausstrahlung der beiden Hügelhälften. Dieser Unterschied ist sehr leicht wahrnehmbar und man wundert sich, wie abrupt und grundlegend sich die Kräfte innerhalb eines so kleinen Hügels wandeln können.
Kann man Reifenstein als den kultiviertesten Hügel der ganzen Hügelkette bezeichnen, so stellt der Thumburger Bichl sein glattes Gegenstück dar. Dieser schwer zugängliche, verwilderte Hügel, der keine 500 Meter von Reifenstein entfernt liegt, hat einen gänzlich anderen Charakter: Er ist sehr roh und seine Wildnis lässt sich als Wildheit spüren.
Kein Weg führt auf den Hügel und so wird er kaum besucht. Es macht sich eine wuchernde Unbezähmtheit breit, dichtes Buschwerk, Brennnesseln und Salomonssiegel besiedeln die Hänge sowie die Kuppe des Hügels und zwischen umgestürzten Baumstämmen und hohen Stauden haben Schnecken aller Art ihre Heimat gefunden.
Trotz allem ist der Thumburger Bichl aber auch ein Ort, den unsere Vorfahren schon in der Bronzezeit und später in der Eisenzeit aufgesucht und möglicherweise bewohnt haben. Eine rätselhafte Trockenmauer, welche die höchste Fläche umringt, weist in diese Richtung, während mehrere eigenartige Mulden sich geschichtlich nicht genau einordnen lassen. Auch hier fanden sich einzelne vorgeschichtliche Tonscherben, die von einer Zeit erzählen, in der dieser Hügel noch eine wichtige Rolle spielte. Heute hingegen bietet er Raum für die Natur, und nur gelegentlich verirrt sich einer der vielen Fahrer, die am nahen Lkw-Parkplatz Station machen, in seine archaische Wildnis.
Der Kron- oder Custozzabühel ist der flächenmäßig kleinste und niederste der vier Hügel. Er ist in Privatbesitz und auf seiner Kuppe befindet sich ein herrschaftliches Haus, so dass man sich vor Ort selbst keinen Eindruck davon machen kann. Die auffallende Schieferfelskuppe am Rand von Sterzing ist durch einen Sattel mit dem Thuinser Hang verbunden und stellt das äußerste Ende dieser Hochfläche dar. Sie ist nur von einer Seite aus zugänglich, denn auf den anderen drei Seiten bilden steile Felsenhänge eine fast unüberwindliche Barriere.
Der Kronbühel hat einen Umfang von gerade einmal 200 Metern, nichtsdestotrotz ist er jener Hügel mit den meisten prähistorischen Funden. Hier entdeckte man in den 1960er Jahren, vor allem beim Bau der Autobahn, welche im Südwesten seine Flanke durchschneidet, Säcke voller Tonscherben sowie Knochenstückchen und dazu verbrannte Körner und Hülsenfrüchte.
Auch die Bronzefunde waren ergiebig: ein Hallstattbeil, eine Bronzesichel und ein Bronzepfriem, dazu noch eine Glasperle sowie eine Tonscherbe mit rätischen Schriftzeichen. Eine einzelne frühbronzezeitliche Scherbe rundet den Fundschatz ab und zeigt, dass der Hügel lange Zeit als bedeutender Kultort auserkoren war.
Leicht kann man sich an diesem suggestiven Plätzchen vorstellen, dass es einst ein heiliger Ort war, an dem sich zu bestimmten Zeiten die Menschen der nahen Siedlungen trafen und den höheren Kräften zu Ehren Feuer entzündeten, die hell am Rand der weiten Auenlandschaft aufleuchteten, und Opfer darbrachten. Selbst im Namen Kronbühel klingt noch eine Erinnerung an seine einst große Bedeutung an.
Hier, nahe dem Alpenhauptkamm, waren die kalten Wintermonate entbehrungsreich, und deshalb war man sich der wärmenden und lebensspendenden Kraft der Sonne ganz besonders bewusst und beobachtete gespannt ihre länger und kürzer werdenden Bahnen. Wenn sie sich gegen die Wintersonnenwende hin immer mehr dem Bergrücken des Zinseler näherte, das Licht immer früher hinter ihm verschwand und Dunkelheit und Kälte zunahmen, war der Zusammenhalt in der Gruppe besonders wichtig, hier brachten gemeinsame Feiern neue Hoffnung und Lebensfreude.