Culture | Salto Gespräch

Mit Philosophie aus dem Lockdown

Warum die "Liebe zur Weisheit" gerade jetzt sehr nützlich ist. Ein philosophisches Gespräch mit Andreas Oberprantacher über ausgedehnte Zeiten in den eigenen vier Wänden.
andreas_oberprantacher
Foto: Privat

salto.bz: Wie sieht Ihr gegenwärtiger Alltag aus? Sie philosophieren daheim?

Andreas Oberprantacher: Völlig unspektakulär jedenfalls. Es ist ein Alltag, der sich wie jener von vielen anderen momentan ums Zuhause dreht, d.h. es geht um kleinere und größere Sorgen, aber auch um den Versuch, mit dieser verflixten und deprimierenden Situation etwas anzufangen. So wie ich das Philosophieren – in einem breiten Sinne – verstehe, handelt es sich um ein Denken, das beginnt, wenn das scheinbar Selbstverständliche wieder fremd erscheint – so wie jetzt auch. Sich Gedanken zur jetzigen Situation zu machen, kann also bereits als eine philosophische Erfahrung bezeichnet werden. Und diese Erfahrung wird gegenwärtig von viel mehr Menschen als sonst, also nicht bloß von "geschulten", d.h. professionellen Philosoph*innen gemacht. Insofern würde ich auch sagen, dass wir uns alle so oder anders philosophische Gedanken machen, vielleicht gar nicht anders können als zu philosophieren, selbst oder gerade wenn wir aufs Zuhause zurückgeworfen werden und uns auf Gewohntes nicht mehr verlassen können.

Dass Krisen auch Chancen sind, ist jedenfalls ein Allgemeinplatz, der häufig verdeckt, welche katastrophalen Konsequenzen sie vielfach haben, etwa für die Freiheitsrechte, die ja mühsam erkämpft und errungen und nicht etwa geschenkt wurden...

Wie meistern Sie Ihre akademische Arbeit mit den Studierenden, denen der Zutritt zur Universität verboten ist? 

In einem engeren Sinn bezeichnet die Philosophie bekanntlich eine professionelle akademische Tätigkeit, die historisch eng mit der Universität als Institution verknüpft und von diversen Routinen, wie z.B. miteinander diskutiert wird, geprägt ist. Die gegenwärtige Krise macht uns auch in diesem Sinne deutlicher als sonst bewusst, wie voraussetzungsreich diese akademische Tätigkeit ist und wie kompliziert es wird, wenn sich viele der Voraussetzungen, an die wir uns jahrelang gewöhnt haben, abrupt ändern. Die temporäre Schließung von Universitäten und die Umstellung von Lehrveranstaltungen ist sicherlich nicht so dramatisch wie Vieles andere, was gegenwärtig geschieht, angefangen von den schweren Krankheitsverläufen bis zur teilweisen Außerkraftsetzung von Grundrechten. Im Allgemeinen ist der universitäre Betrieb auch ganz gut vorbereitet, da Online-Formate schon seit Jahren erprobt werden, wenngleich nicht in diesem Umfang. Vergessen wird in diesem Zusammenhang aber oft, dass für Lehrpersonen ebenso wie für Studierende die gegenwärtige Umstellung auch deshalb belastend ist, weil parallel dazu ja noch Versorgungsarbeiten geleistet werden müssen und zugleich – ich denke hier an Studierende oder an prekär Beschäftigte – auch viele Einkünfte weggebrochen sind. Es geht also nicht bloß um den gewechselten Modus – von Präsenz- zur Online-Lehre –, sondern um Bedingungen, die völlig geändert sind und bisherige Arbeitsteilungen auf den Kopf stellen.

Sie bereiten eine Lehrveranstaltung zum Thema „The Great Lockdown. Eine Geschichte der Biopolitik von Pest zu Corona“ vor. Was können wir aus der Geschichte lernen?

Ich selbst habe das Glück im Unglück, um es mal so zu formulieren, dass ich derzeit einen so genannten "Studienurlaub" bewilligt bekommen habe und folglich in diesem Semester keine Lehrveranstaltungen halten muss und nur Studierende betreue, die frühere Vorlesungen und Seminare bzw. ihr Studium abschließen wollen. Insofern habe ich momentan auch einige Ressourcen, um für das kommende Semester neue Lehrveranstaltungen vorzubereiten, und dazu gehört tatsächlich auch eine, diese sich mit der Geschichte der Biopolitik im Kontext der Entwicklung der Epidemiologie befasst. Die Geschichte der verschiedenen Epidemien und Pandemien ist insofern spannend, als sie anschaulich zeigt, wie sehr sich unser Verständnis der Bevölkerung im Zuge von Infektionskrankheiten verändert hat und wie viele der Maßnahmen, die kurzfristig angeordnet wurden, auch längerfristig zur Regierung von Menschen angewandt werden, auch wenn die Folgen undemokratisch sind.

Viele Menschen sehen ihre Freiheitsrechte in dieser Krisensituation beschnitten. Führen unangenehme Begrenzungen auch zu angenehmen Gedankengängen? Mit Phantasie und Philosophie?

Also, mir persönlich fehlt jedenfalls die Phantasie, die nötig wäre, um den gegenwärtigen Restriktionen – so medizinisch vernünftig sie auch sein mögen – etwas politisch Angenehmes abzugewinnen, einmal abgesehen davon, dass es momentan noch ganz angenehm ist, nicht jeder Veranstaltung hinterherlaufen zu müssen. Dass Krisen auch Chancen sind, ist jedenfalls ein Allgemeinplatz, der häufig verdeckt, welche katastrophalen Konsequenzen sie vielfach haben, etwa für die Freiheitsrechte, die ja mühsam erkämpft und errungen und nicht etwa geschenkt wurden, aber auch für die soziale Ungleichheit, die sich infolge der Corona-Krise weiter verschärfen und kaum verringern dürfte. Am ehesten könnte es darauf ankommen, uns erneut Gedanken zu machen, wie wir in Zukunft auf diesem Planeten zusammenleben wollen und auf welche stillschweigenden Voraussetzungen unser bisheriges Leben vertraut, etwa auf die Versorgungsarbeit, die nach wie vor extrem ungleichmäßig verteilt ist.

Sollte durch die Corona-Krise die Notwendigkeit entstanden sein, auf andere Weise Türen und Tore zur Kultur zu eröffnen, so ist mir das persönlich sehr recht – solange die bisherigen nicht geschlossen bleiben.

Wie haben sie "Zeit" in den vergangenen Wochen neu oder anders wahrgenommen? Und welche philosophischen Überlegungen haben sie dazu anstellen können?

Von der Zeit, mit der ich zunächst einmal im Rahmen meines Studienurlaubes gerechnet habe, um ein Buch fertigzustellen, ist relativ wenig geblieben, zugleich habe ich wie wahrscheinlich viele andere auch das Gefühl, dass sich die Tage im Kreis drehen und dass es keine triviale Übung ist, einen neuen Rhythmus zu erfinden. Der französische Soziologe Luc Boltanski hat die Stimmung unserer Gegenwart einmal als "Vorhölle" (limbo) bezeichnet und m.E. scheint dieser Begriff tatsächlich geeignet, um den gesellschaftlichen Dämmerzustand, in dem wir uns versetzt befinden, zu beschreiben.

Kunst, Literatur, Musik, Philosophie – viele Kulturangebote sind in den virtuellen Raum umgezogen. Welche Zukunft sehen Sie in dieser eilig gekommen Umschichtung nach Corona?

Ich finde es jedenfalls wichtig, über neue Formen der Beteiligung und Zugänglichkeit nachzudenken, gerade was kulturelle Veranstaltungen betrifft, zumal ja Menschen bereits vor Corona nicht in gleichem Maße die Möglichkeit hatten, an Konzerten, Lesungen, Performances oder Debatten teilzunehmen. Sollte durch die Corona-Krise die Notwendigkeit entstanden sein, auf andere Weise Türen und Tore zur Kultur zu eröffnen, so ist mir das persönlich sehr recht – solange die bisherigen nicht geschlossen bleiben.

In welcher Umgebung lassen sich Ihrer Meinung nach am besten philosophische Überlegungen anstellen?

Das Denken als Tätigkeit gedacht ist nichts, was im so genannten Wolkenkuckucksheim bzw. im viel zitierten Elfenbeinturm stattfindet, es erfordert Bewegung, Reibung, Konfrontation. In diesem Sinne bietet uns auch der gegenwärtige Lockdown, die Notwendigkeit, sich zuhause neu orientieren zu müssen, mehr als genügend Möglichkeiten, um zu philosophieren. Allerdings ist es ebenso wichtig, dass diese Erfahrungen miteinander geteilt, d.h. mit-geteilt werden und sich so etwas wie eine kritische Öffentlichkeit bildet, ansonsten besteht effektiv die Gefahr, dass es sich bei der gegenwärtigen Corona-Krise bloß um etwas handelt, das uns privat betrifft, als Privatpersonen betroffen macht. Es geht also um die Kunst, viele der Erfahrungen, die wir rund ums Zuhause ebenso wie um Sorgen und Ängste machen, miteinander teilen, um so vielleicht auch die Bedeutung einer sich globalisierenden Welt neu denken zu lernen.

Wann wird Sie der gewöhnliche Universitätsalltag wieder einholen?

Wahrscheinlich wird das unvermutet bald geschehen.