Society | Drama im Meer

Pius und der Schiffsbruch

Eine Mutter bekommt den Anruf ihres 18-jährigen Sohnes von einem sinkenden Schiff im Mittelmeer. Der Sohn spricht über ein Satellitentelephon seiner Mutter Mut zu.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Als ärztlicher Verantwortlicher der berüchtigten STP-Ambulanz wurde ich gestern, Donnerstag, am Abend Zeuge einer Tragödie. Kurz die Fakten: Eine äthiopische Mutter bekommt den Anruf ihres 18-jährigen Sohnes von einem sinkenden Schiff im Mittelmeer. Auf diesem Schiff befinden sich offensichtlich etwa 100 Flüchtlinge aus verschiedenen nordafrikanischen Ländern. Der Sohn spricht über ein Satellitentelephon seiner Mutter Mut zu: Er sei stark, aber alle hier seien am Ende ihrer Kräfte. Einige Flüchtlinge seien schon vom Meer verschluckt worden. Die Südtiroler Sozialhelfer benachrichtigen die UNHCR und die italienische Schiffwache. Die GPS-Daten werden registriert. Es erscheint eine makabre Flag auf Google-Maps mitten im Mittelmeer, an dem sich alle Hoffnung der Mutter festkrallen. Die lakonische Antwort der Küstenwache vermittelt gleichermaßen Erfahrung und Routine: Sie seien gerade in 13 Rettungsaktionen im „Mare Nostrum“ im Einsatz. Und nun? Was tun? Wir sind alle überfordert. Ich verabreiche der Frau Beruhigungstropfen. Sie will nicht. Die Nacht kommt. Für ihren Sohn und alle Leute auf dem Boot, für die Mutter. Während ich diese Zeilen schreibe, kämpfen und verzweifeln Menschen. Was ist ihre Schuld? Was ist unsere Schuld? Welche Schuld hat das demokratische Europa? Welche Schuld hat die Politik und ihre Wähler?

Es erscheint eine makabre Flag auf Google-Maps mitten im Mittelmeer, an dem sich alle Hoffnung der Mutter festkrallen. Die lakonische Antwort der Küstenwache vermittelt gleichermaßen Erfahrung und Routine: Sie seien gerade in 13 Rettungsaktionen im „Mare Nostrum“ im Einsatz. Und nun? Was tun? Wir sind alle überfordert.

Alles erscheint mir heute so unerträglich. Gerade heute musste ich von einer weiteren Pressekonferenz gegen die Berechtigung der STP-Ambulanz erfahren. Meine Sanitätsassessorin Martha Stocker weiß kein besseres Argument, als die „Schuld“ für deren Existenz dem italienischen Gesetz zuzuschieben. Ich kann nur den Kopf schütteln! Zum Glück bekam ich heute einen solidarischen Anruf von einem ranghohen ärztlichen Kollegen, der unsere Bemühungen schätzt und verteidigt.

Meine Sanitätsassessorin Martha Stocker weiß kein besseres Argument, als die „Schuld“ für deren Existenz dem italienischen Gesetz zuzuschieben. Ich kann nur den Kopf schütteln!

Die Wahrheit ist anders. Wir in Südtirol können diesen Jungen nicht retten. Vielleicht ist er schon tot, wie andere 10.000 Menschen in diesem Jahr. Vielleicht kann sogar Europa diesen Jungen nicht retten. Aber wir können mit unseren Ausländern verständnisvoller umgehen. Wir können den wenigen, die es schaffen, den vielen Traumatisierten einen Arm um die Schulter legen. Als Sohn, als Mutter, als als Bruder oder Schwester. Wir können die medizinische und soziale Hilfe verbessern. Oder zumindest deren Berechtigung nicht andauernd in Frage stellen, Neid und Hass schüren. Das ist wirklich zu einfach!

Pius Leitner hat sich erst kürzlich über die ärztliche Betreuung der sans papiers in Südtirol empört. Er ist ein europäischer Politiker und war sogar Kandidat im Bündnis mit der Lega Nord bei den letzten Europawahlen. Dabei haben Salvini und Leitner keine gangbare Lösung für die weltweiten Flüchtlingsströme vorgebracht, sondern verbeißen sich auf eine versagte Abschottungspolitik.

Ich möchte mich da als europäischer Bürger nicht ausnehmen, aber ich schöpfe kein politisches Kapital aus dem Unglück anderer. Ich versuche zuzuhören und manchmal meine Zeit, meine Tränen, meine Professionalität jenen anzubieten, die eben nicht immer soziale Schmarotzer sind. Es sind in erster Linie Menschen, für deren seelische und körperliche Unversehrtheit auch wir Verantwortung mitzutragen haben. Und mittragen können.

 

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ulrike spitaler Fri, 07/18/2014 - 09:27

Danke, Max für Artikel und Engagement.
In Verwaltung und Politik scheinen nicht wirklich viele eine Ahnung davon zu haben, was die STP-Ambulanz überhaupt ist und warum sie wichtig ist.
Schade, dass man sich wegen Best-Practice-Projekten beinahe schämt.

Fri, 07/18/2014 - 09:27 Permalink
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paul koellensperger Fri, 07/18/2014 - 12:54

danke Max für diesen ergreifenden Beitrag. Ich hab diesen Artikel gelesen, gleich nachdem ich die Bilder der 4 toten Kinder gesehen hatte, die im Gaza Streifen Fussball spielten bevor eine israelische Rakete sie tötete. Es fällt einem nach solchen Eindrücken sehr schwer sich hier um das Tagesgeschäft zu kümmern, da einem auf dramatische Art klar wird dass die wirklichen Probleme ganz andere sind, nicht unsere hier in Südtirol.

Fri, 07/18/2014 - 12:54 Permalink
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Walter M Fri, 07/18/2014 - 13:50

Ich bin schon länger bei salto.bz dabei, aber für diesen Artikel hätte ich mich eigens registriert um ihn "liken" zu können.
Danke.

Fri, 07/18/2014 - 13:50 Permalink
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Martin B. Fri, 07/18/2014 - 14:57

Menschlich ein Purgatorio. Distanzieren wir uns aber ganz emotionslos und betrachten die Rasse Mensch und die erfolglosen Versuche Gewalt, Unterdrückung, Hunger und Leid zu mindern, so überkommt einen noch mehr ein Gefühl der Machtlosigkeit. Ich bin kein Fan seiner Schreibweise, aber der Inhalt von Dan Brown's Inferno (englische Urlaubslektüre) hat mir ziemlich zu denken gegeben. Wie auch immer die Entwicklung des Menschen sich regulieren wird, angenehm ist's schon nicht und wird es auch wohl nicht.

Fri, 07/18/2014 - 14:57 Permalink
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Maximilian Ben… Fri, 07/18/2014 - 15:50

Immer das gleiche. Stol und athesianahe Medien blendend diese Nachricht aus. Im Sommerloch gibt es anscheinend wichtigeres. Oder dessen StopderGewalt-Blattlinie vertägt diesen Stoff nicht. Aber ihr Artikel zur stp-ambulanz trohnt noch auf der Home. Also liebe Mitbürger Und Mitbegründerinnen, in Sachen Medienvielfalt kann man nicht genügend tun...

Fri, 07/18/2014 - 15:50 Permalink