Culture | Die Rezension

Lieben lernen

Im 2024 für Einaudi erschienenen Sachbuch “Grammamanti. Immaginare futuri con le parole” denkt Vera Gheno laut über die Beziehung mit ihren Sprachen nach und erklärt, warum wir Sprachen nicht besitzen, sondern lieben lernen müssen.
Grammamanti, Enaudi
Foto: Einaudi
  • Ein junger Mann lächelt auf dem Display meines Handys. “Butterfly”, flötet er in die Kamera, “farfalla!, mariposa!”. Dann verzieht er das Gesicht zu einer Fratze, schraubt die Tonlage nach unten und kräht: “Schmetterling!!!”. Videos wie dieses, die sich für ein paar Likes über die hart klingende (und durch unzählige Nazi-Filme vorbelastete) deutsche Sprache lustig machen, gibt es im Internet zuhauf. Dabei kann man “Schmetterling” auch ohne Essiggurkengesicht und in weniger drohendem Ton aussprechen. “Schmetterling”. Klingt eigentlich ganz niedlich, so wie es auf der Zunge zergeht. Schaut man genauer hin, wird es sogar noch liebenswerter: “Schmetterling” stammt nämlich vom althochdeutschen Wort “Smetana” ab, das im Ungarischen noch heute für Milch oder Sahne verwendet wird. Da er sich mit Vorliebe auf Milch- und Sahnebechern niederlässt und von diesen nascht, ist der grob ausgesprochene “Schmetterling!!!” also eigentlich ein Sahneling - wie auch die englische Butterfliege.

    Wenn wir uns mit dem Ursprung und der Bedeutung von Wörtern (wie Schmetterling) beschäftigen, können wir unsere Beziehung zu ihnen verändern. Diesen und andere Vorschläge macht die italienische Soziolinguistin Vera Gheno in ihrem 2024 bei Einaudi erschienenen Buch “Grammamanti. Immaginare futuri con le parole”. Ein Buch, das unsere Beziehung zu unseren Sprachen - und damit zu uns selbst, zu den anderen und zur Welt, die wir beschreiben - verändern will: weg von der Überwachung, den strengen Regeln und den Einschränkungen der “Grammarnazis", hin zu einer etwas komplizierteren, von Neugierde geprägten offenen Beziehung.

     

    Weg von der Überwachung, den strengen Regeln und den Einschränkungen der “Grammarnazis”, hin zu einer etwas komplizierteren, offenen Beziehung.

  • Warum lieben?

    Vera Gheno Foto: Vera Gheno

    Wie die Sprachwissenschaftlerin auf knapp 150 sehr zugänglichen Seiten darlegt, haben viele von uns eine quälende Beziehung zu unseren eigenen Sprachen und Wörtern: Wir nehmen sie in Besitz, spielen Sprachen gegeneinander aus, schützen sie vor unbekannten Einflüssen und versuchen, Slangs, Gendersternchen, Neologismen und Fremdwörter zu eliminieren. Mit dem Ideal einer reinen Sprache im Kopf zensieren wir uns selbst und andere und verteidigen - wie Vera Gheno am Beispiel des Italienischen erklärt - “die schöne Sprache, die es zu schützen gilt”. Dabei vergessen wir, dass es das goldene Zeitalter der Sprache, in dem alle wie aus dem Wörterbuch sprachen, nicht nur heute nicht gibt, sondern auch nie gegeben hat. Denn Sprache, so Gheno, lebt nicht im Wörterbuch oder im Museum, sondern davon, dass sie immer neue Möglichkeiten schafft, das immer Neue zu beschreiben. Wenn wir den Sprechenden verbieten, neue Möglichkeiten zu schaffen, um sich selbst, andere und die Welt, die ist (und sein könnte), zu beschreiben, sprechen wir gleichzeitig ihr Todesurteil: Die Sprechenden wenden sich unweigerlich anderen Sprachen zu, die es ihnen ermöglichen, das, was sie beschäftigt, mit der größtmöglichen Sorgfalt zu beschreiben; eine Nicht-binäre Gender-Identität zum Beispiel oder einen Farbton, für den es noch keinen Namen gibt.

  • "If you love somebody, set them free"

    Während wir im Sprachunterricht vor allem lernen, wie etwas gesagt werden muss (das Tier heißt auf Deutsch “Schmetterling” und gehört zur Familie der Insekten; Genitiv), konzentriert sich Vera Gheno in “Grammamanti” darauf, wie etwas gesagt werden kann. Das heißt nicht, dass Regeln nicht auch sinnvoll sein können, aber indem wir über unsere Sprache, ihre Wörter, ihre Herkunft und ihre Bedeutung nachdenken, haben wir die Möglichkeit, uns bewusst für oder gegen einen Ausdruck zu entscheiden und neue Ausdrücke zu prägen. Wir können Menschen ein- oder ausschließen, sie respektieren oder verletzen.

    Ziel dieser Überlegung ist für Linguistin nicht nur die Macht, die uns eine bewusste Sprache verleiht, sondern auch Respekt. Für eine respektvolle Sprache braucht es laut Gheno kein Regelwerk, das wiederum diejenigen ausschließt, die es nicht kennen, sondern ein Bewusstsein dafür, was Sprache bewirken kann: Während sich die Kraft der Sprache auch dann zeigt, wenn wir sie unterwürfig verwenden, können wir sie mit ein wenig Neugier und Offenheit als Instrument des demokratischen Widerstands nutzen.

     

    Ohne Liebe gäbe es keine Sprache.

     

    Um dieses Bewusstsein zu schärfen, erzählt die Linguistin, die zwischen der italienischen, ungarischen und finnischen Sprache aufgewachsen ist, vier Liebesgeschichten. Während sich die erste Liebesgeschichte um die verschiedenen Theorien der Sprachentstehung dreht, geht es in der zweiten um die Theorien der Sprachentwicklung im Individuum. Beide sollen zeigen: Ohne Liebe gäbe es keine Sprache und wir Menschen könnten nicht nur nicht sprechen, sondern würden unsere Sprachlosigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben, denn: Anders als Sprachlernprogramme brauchen wir Menschen, die mit uns sprechen und uns direkt ansprechen, um uns und unsere Fähigkeiten zu entwickeln.

    Das Herzstück des Buches bilden die beiden letzten Liebesgeschichten: Die eine erzählt davon, wie wir Menschen uns zu Sprache und Wörtern verhalten und wofür wir sie nutzen und nutzen können, die andere stellt die Autorin selbst in den Mittelpunkt. Auf berührende Weise erzählt Vera Gheno, wie sich ihr ganz persönlicher Sprach-Fingerabdruck (Idiolekt) entwickelt hat und immer noch entwickelt. Ein Fingerabdruck, der - wie bei allen anderen auch - nicht nur aus Sprachkursen und Lektüre besteht, sondern auch aus all dem, wofür wir uns vielleicht ein bisschen schämen: die Serie, die wir binge-watchen, der Dialekt, der unseren Akzent färbt, oder die Shampoo-Etikette, die wir zum x-ten Mal auf der Toilette lesen. 

  • Open it up!

    Wer sich in einer offenen Beziehung versucht, weiß, dass Offenheit für das, was von innen und außen in eine Beziehung kommt, die Dinge nicht unbedingt einfacher macht. So ist es wohl auch mit der Sprache: Wenn wir uns den vielen Möglichkeiten öffnen, die uns das sprachliche Universum bietet, werden unsere Worte vielleicht nicht oder falsch verstanden, Grenzen müssen analysiert und ausgehandelt werden, und plötzlich stellen wir fest, dass unsere Wahl die andere verletzt. Vera Gheno zeigt uns in “Grammamanti” wie wir uns öffnen können; dass das nicht ganz einfach ist, gehört irgendwie dazu.