Society | Interview
„Ich würde es Krisenzeiten nennen“
Foto: Caritas
Christiane Folie ist die Leiterin der Psychosozialen Beratung der Caritas im Vinschgau. Seit 40 Jahren finden dort jedes Jahr rund 300 Betroffene und deren Angehörige professionelle Beratung und Begleitung bei Abhängigkeiten von Alkohol und Medikamenten, aber auch bei Spielsucht, Depressionen, Ängsten und anderen psychischen Erkrankungen. Die Beratungen finden in Schlanders, Mals und Naturns statt.
salto.bz: Frau Folie, wie kommen die Menschen im Vinschgau durch diese unsicheren und schwierigen Zeiten?
Christiane Folie: Ich kann darüber berichten, was unsere Klienten uns mitteilen. Sie sind in Sorge, aber im Vinschgau haben wir Gott sei Dank das Glück, dass wir recht gut aufgestellt sind, es gibt Hilfen und viele haben eine Beschäftigung. Man muss aber sagen, dass es generell das psychische Wohlbefinden beeinflusst. Wir merken in der Beratung, dass die eigentlichen Themen, weswegen sie zu uns gekommen sind, oft in den Hintergrund geraten und aktuelle Themen und die Unsicherheit Vorrang haben. Es ist ein großer Bedarf da, darüber zu sprechen und gemeinsam zu schauen, wie man die Anspannung ein wenig abbauen könnte.
Die Anspannung und Unsicherheit nehmen zu, auch wenn wir keinen wirklichen Pessimismus wahrnehmen.
Ist die Anspannung auf die hohe Inflation zurückzuführen?
Ich würde es allgemein Krisenzeiten nennen. Die Anspannung und Unsicherheit nehmen zu, auch wenn wir keinen wirklichen Pessimismus wahrnehmen. Hier ist es unsere Aufgabe zu verhindern, dass das nicht in Panik umschlägt und zu schlaflosen Nächten führt. Wir unterstützen sie dabei, eine realistische Einschätzung zu behalten.
Welche Themen verbinden Sie mit Krisenzeiten?
Es ist gerade so viel im Wandel, der Krieg in der Ukraine, die Strom- und Heizpreise, aber auch die Corona-Pandemie ist noch nicht ganz ausgestanden. Diese Fülle von Informationen macht dann auch die Unsicherheit aus.
Vor 40 Jahren waren wir noch Exoten und begegneten Abwehrhaltung und Skepsis.
Besorgt auch der Klimawandel die Menschen?
Bei unseren Klienten ist es schon ein Thema, aber nicht vorrangig.
Ist es noch immer ein Tabu, eine Therapie in Anspruch zu nehmen? Wie hat sich das seit der Gründung der Beratungsstelle vor 40 Jahren entwickelt?
Vor 40 Jahren waren wir noch Exoten und begegneten Abwehrhaltung und Skepsis. Mittlerweile sind wir eine fixe Institution im Vinschgau geworden. Wir haben viele Netzwerkpartner, die uns Klienten zuweisen. Es wenden sich aber auch viele Einzelpersonen, Angehörige und Betriebe an uns und bitten um Informationen, Beratung oder Therapie. Vor allem Abhängigkeitserkrankungen sind immer noch mit Scham behaftet, auch wenn es sich wesentlich verändert hat. Den ersten Schritt in eine Beratungsstelle zu machen, ist nicht immer einfach.
Wieso kann man Abhängigkeitserkrankungen und insbesondere Alkoholsucht nicht heilen, sondern „nur“ stoppen?
Wir sprechen hier von chronischen Suchterkrankungen, die nicht heilbar sind. Dafür gibt es kein Medikament und keine Lösung als Heilmittel. Aber Suchterkrankungen können gestoppt werden. Der Betroffene entscheidet sich dann für die Abstinenz, d. h., dass kein Konsum mehr stattfindet. Wenn eine Suchterkrankung diagnostiziert wurde und der Betroffene mit dem Suchtmittel in Kontakt kommen würde, würde sich das sogenannte Suchtgedächtnis wieder aktivieren und die Suchterkrankung ihren Lauf nehmen.
Wenn wir unser Team multidisziplinärer aufstellen können, wäre das ein Vorteil.
In den Anfängen Ihrer Beratungsstelle haben Sie auf aufsuchende Sozialarbeit im Krankenhaus oder zuhause gesetzt. Gehen Sie auch heute noch bewusst auf potenzielle Klienten zu?
Hausbesuche werden nur bei absolutem Bedarf gemacht. Was fixer Bestandteil ist, sind die Besuche im Krankenhaus. Wir haben mit dem Krankenhaus Schlanders vereinbart, dass wir einmal wöchentlich eine Stunde vor Ort sind. Wenn dort Klienten mit einer Alkoholthematik stationär aufgenommen wurden, machen wir mit dem Einverständnis des Klienten eine Erstvisite.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen Diensten aus?
Wir sind ein Dienst mit vier Psychotherapeutinnen, einem Psychotherapeuten und einer Verwaltungskraft. Da Suchterkrankungen komplexer sind, sind wir auf andere Dienste hier im Tal angewiesen. Beispielsweise sind die Dienste der Bezirksgemeinschaft für uns sehr wichtig, wir arbeiten aber auch mit dem Arbeitsamt, dem Psychiatrischen Dienst, dem Psychologischen Dienst oder auch Caritas-internen Diensten wie der Schuldnerberatung zusammen. Wir sind sehr auf das Netzwerk angewiesen und es wird auch sehr stark gepflegt.
Wie finanziert sich die Psychosoziale Beratung der Caritas im Vinschgau?
Wir haben eine Vereinbarung mit dem Sanitätsbetrieb für Suchtkrankheiten, unser Angebot ist für Betroffene und Angehörige kostenlos. Was andere psychische Krankheiten betrifft, haben wir eine zweite Vereinbarung mit dem Sanitätsbetrieb und die Betroffenen bezahlen ein Ticket. Es ist ein minimaler Selbstbehalt.
Was sind die Herausforderungen für die nächsten Jahre? Wie gut sind Sie dafür aufgestellt?
Im Moment sind wir als Team recht gut aufgestellt. Wir sehen aber auch, dass die Komplexität der Themen, die uns begegnen, zunimmt. Wenn wir unseren Dienst erweitern würden, könnte in Zukunft zum Beispiel ein Arzt oder Pädagoge ab und zu dabei sein. Wenn wir unser Team multidisziplinärer aufstellen können, wäre das ein Vorteil. Aber es ist nicht ein unbedingtes Muss, weil, wie ich davor gesagt habe, die Netzwerkarbeit sehr gut funktioniert.
Please login to write a comment!