Stage | Corpi Eretici

Tanzen mit der Zeit

„Étoile“ und „Star“ aus der Reihe Corpi Eretici zeigen, wofür Südtirol das Teatro La Ribalta braucht – für andere Blickwinkel, etwa auf zwei alternde Körper im Tanz. Stefano Vercelli und Teri Weikel zeigen Haut und Innenleben gefühlvoll.
Etoile, Stefano Vercelli
Foto: Antonio Ficai - Fondazione Armunia
  • Es liegt nun zehn Tage zurück, dass die beiden Tanzstücke „Étoile“ (von und mit  Stefano Vercelli) und „Star“ (mit Teri Weikel) im Grieser Stadttheater zur Aufführung gekommen sind. Da es sowohl im männlich besetzten „Étoile“, wie auch im anschließenden, von einer Tänzerin gespielten „Star“ um alternde Körper geht, hoffen wir, dass sich die Verspätung des Textes entschuldigen lässt.

    Ganz so eindeutig ist das mit dem „männlichen“ Körper zu Beginn der ersten Hälfte des Gastspieles von Artisti Drama, nicht. Hinter einer der beiden halbtransparenten Stoffbahnen mit glitzernden Fäden kommen zuerst die Beine Vercellis zum Vorschein, der sein halbstündiges Stück gemeinsam mit Rita Frongia erdacht hat und es im Kleid beginnt. Frongia zeichnet auch für das Schwesterstück von „Étoile“, „Star“ als für Idee und Regie verantwortlich. Im Halbdunkel der Bühne lösen Bekleidung und Mähne des Tänzers, der anschließend auch noch – oben ohne – in ein Tutu schlüpfen wird, anfänglich eine gewisse Verwunderung aus. Ob das erste Stück nicht von einem Tänzer sei, will eine Frau bald von ihrer Sitznachbarin wissen.

  • Star: Der Auftritt von Teri Weikel, der Erwachsenenpflichten und Kindliches vermischt, hatte Stellenweise fast dadaistische Züge. Foto: Antonio Ficai - Fondazione Armunia

    Wir sehen richtig: Sowohl Stefano Vercelli, wie auch Teri Weikel geben ihren mit den Schönheitsidealen der Tanzbühne ohnehin kontrastierende Körpern Attribute des jeweils anderen Geschlechts mit auf den Weg. Bei ihm sind es die Kleider, bei ihr ist es ein Leuchtelement im Schritt, dass an die Ausbuchtung im Schritt der Herren erinnert. Überhaupt wird die Anders- oder Eigenartigkeit von Interpret und Interpretin im Stück noch unterstrichen indem man ihre Körper im wörtlichen Wortsinn „bloß“ stellt. Da ist nichts im leeren, dunklen Bühnenraum das von Vercelli oder Weikel ablenken könnte, die in einer besonders starken Szene zum Publikum hin, in der Bühnenmitte, die Beine spreizt. Die beeindruckende Dehnbarkeit der Tänzerin ist dabei das eine, die Konfrontation und Spannung müssen aber beide, Darstellerin und Publikum aushalten.  Lediglich das Lichtdesign (Daniele Ferri) gibt uns oft einen Stimmungsschlüssel zum Lesen einer Szene in kräftiger Einfärbung mit, oder zeichnet die Hautoberfläche im schummrigen Licht glatter. Alter wird dann zu einer Frage des Gefühls und Falten eine des Lichts.

    Einen zugrundeliegenden poetischen Text übersetzt man auf der Bühne in Bilder und Bewegung und lässt den Tänzer und Schauspieler mit Erinnerungslücken und einer Form von Bühnendemenz kämpfen, die nebulöse Momente mit Klarheit mischen. Die Energie von Ferris Auftritt ist eine andere und damit auch die Tanz- und Bühnensprache. Eher erratisch wechselnd  und sprunghaft geht es in „Star“ auf den weiblichen Körper zu, der immer wieder auch ins Kindliche kippt. Das sorgt für eine gewisse Auflockerung, aber auch wieder für Fremdheit, wenn Teri Weikel etwa Bonbons aus dem Slipp zaubert. Das Bonbonpapier wird genutzt um mit Lichtreflexionen zu spielen und einen Moment der Schönheit und des Staunens zu schaffen, bevor es um etwas gänzlich anderes geht: Das Kochrezept für „Sarde a beccafico“, körperlich umgesetzt und im palermitanischen Dialekt verlesen.

    Sind die beiden Stücke, wie man sich vorstellen kann auch wahnsinnig deutungsoffen, so ist ihnen doch auch ein recht eindeutiges Symbol gemein. Tänzer wie Tänzerin greifen zu Zigaretten, was wir nicht als Tabakwerbung verstehen wollen, auch da die Kippen zwar angezündet, aber nicht geraucht werden. Stefano Vercelli nutzt die Glimmstängel zum Tanzen, um mit blauen Rauchfäden in den schwarzen Bühnenraum zu zeichnen und Teri Weikel nutzt sie, um ein Wahlross mit Stoßzähnen zu mimen. Für flüchtige Schönheit oder einen kindischen Moment ist es nie zu spät, dauern diese auch nur ein, zwei Zigaretten lang.

  • In der Reihe „Corpi Eretici“ des Teatro La Ribalta stehen diese Woche gleich zwei Termine an. Am Donnerstagabend, 20.30 Uhr, ist im Bozner T.Raum (Voltastraße 1) „Digiunando davanti al mare“ zu sehen, das Danilo Dolci gewidmet ist. Dem „Ghandi Siziliens“ widmen sich für das Principio Attivo Teatro Fabrizio Saccomanno (Regie), Francesco Niccolini (Dramaturgie) und Darsteller Giuseppe Semeraro.

    Die Direktorin der Libera Università delle donne di Milano, Lea Melandri, stellt dagegen am Freitag, ab 17.30 Uhr, ihr daueraktuelles Buch „Amore e violenza. Il fattore molesto della civiltà“ in der Nuova Libreria Cappelli (Freiheitsstraße 2) vor. Im Buch befasst sich die Autorin mit dem symbolischen wie körperlichen Konfliktpotential in Sexualität und Mutterschaft.

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Peter Hopfgartner Tue, 11/19/2024 - 08:56

Die Häresie, die einen Blick auf Neues öffnet.

Die Rezitation des Kochrezepts: Die detaillierte und klare Erinnerung an lange Vergangenes, wie sie bei Demenz-Erkrankten häufig auftritt.

Tue, 11/19/2024 - 08:56 Permalink