Books | Buchvorstellung

Der außergewöhnliche Capitano Jori

Wieviel Ego hat in der Kunst platz? Marcello Joris „Lo straordinario viaggio del mondo“ sieht ihn den primordialen Orgasmus erleben, Hitler besiegen und den Tod begraben.
Lo straordinario viaggio del mondo, presentazione al Museion, Marcello Jori, Antonio Lampis
Foto: SALTO
  • Im Bozner Museion fand am Donnerstag die italienweit erste Vorstellung von Marcello Joris neuestem Buch, mit Freund und Jori-Kenner Antonio Lampis statt. Dabei wurde im wesentlichen das gesamte Buch vorweggenommen. Aber was ist das für ein Buch? Es ist kein „Fumetto“, keine „Graphic Novel“ und kein „Roman“, laut dem Buchrücken. Der aus Meran stammende Autor bevorzugt den Ausdruck „Pensiero dipinto in Movimento scritto“. Was mit einem Fallschirmabsprung beginnt und mit der Eliminierung der Sterblichkeit endet (der Tod wird ja begraben), ist die Geschichte von „Capitano Jori“, der „wie bei den Meistern der Renaissance, die sich selbst in ihre Bilder einfügten“, so Lampis, jünger und schöner ist als sein Autor. Jori, der, was man nicht meinen würde, letzte Woche seinen 72. Geburtstag gefeiert hat, malte und schrieb Gedanken und Bewegung des nun bei Rizzoli zwischen Buchdeckel gepackten Werkes, bereits vor einiger Zeit. Es stammt aus den Jahren 1992 bis ’98, als Marcello Jori unter Exklusiv-Vertrag beim größten japanischen Manga- und Buchverlag Kōdansha stand, welcher der größte im Land ist. Im Sinne der Brevitas mag man an Comic-Verlage wie Marvell oder DC-Comics denken, statt als neuer „Spider-Man“- oder „Wonder Woman“-Band, erscheinen neue Kapitel aber gebündelt mit anderen fortlaufenden Geschichten wöchentlich.

    Vor diesem Hintergrund mag „Capitano Jori“, der in „Lo straordinario viaggio del mondo“, trotz Überarbeitung für den italienischen Markt wie ein Comic-Held auftritt, mehr Sinn ergeben. Dass das Buch Abschnitt für Abschnitt entstanden ist, mag hingegen verständlich machen, warum zwischen die Abenteuer oft wortwörtlich kein Blatt passt. Die Schwierigkeit der Lektüre rührt aber auch daher, wie eng verknüpft Hauptfigur und Autor, nicht nur wegen des Gesichts, sind. Mit kindlicher Freude, beneidenswertem Selbstvertrauen und in erster Person sprechend, nimmt Marcello Jori mit einem Beamer und Teleprompter bewaffnet so viel von seiner ausgemalten Machtfantasie durch, dass man die 35 Euro für das Buch eigentlich hätte behalten können. 

  • Lo straordinario viaggio del mondo: Das Cover des Buches. Foto: Marcello Jori, Rizzoli

     

    Dennoch, oder gerade wegen dieser Machtfantasie, die keine Grenzen oder Tabus kennt, frei nach dem Motto „Der Künstler kann alles“, übt das Druckwerk eine gewisse Faszination aus. In Zeiten, in denen viel von „alten weißen Männern“, „Cancelculture“ und der Frage „darf man das?“ die Rede ist, scheint Marcello Jori geradezu furchtlos, auch wenn er zugesteht, dass man „verrückt“ sein müsse, um sich das zu erlauben, was er sich herausnimmt. Antonio Lampis kann ihn hier kaum bremsen, um noch etwas Überraschung an dem Buch zu lassen.

  • Um die aus der Welt verschwindende Liebe zu retten, muss Jori in den Besitz eines „Gegengifts“ gelangen, das er nur erhalten kann, wenn er eine afrikanische Stammeskönigin penetriert und den „primordialen Orgasmus“ erlebt. Wie dieses Gegengift dann über die Welt verteilt werden muss, kann sich jeder selbst denken. Auch Bezüge zu Texten des Literaturkanons stellt der Autor her, so sieht ihn der nächste Abschnitt dieses fiebrig bunten Traums, dessen Bilder oft schreiend und extrem sind, auf Jagd nach Mobby Dick. In einer Umkehr a la Disney, der Carlo Collodis „Pinocchio“ verfilmte und entschied, dass ein Waal besser geeignet sei eine Marionette zu verschlucken als ein Riesenhai, befindet Jori, dass ein Riesenhai furchteinflößender sei als ein weißer Waal. 

    Mit Abstand am schwersten zu lesen ist allerdings die fernöstlich dem Westen ferne Action-Sequenz, welche auf einer Insel die Seelen verstorbener Nationalsozialisten im Kampf mit den Seelen der in den Gaskammern ermordeten Juden sieht. Die einen, allen voran Adolf Hitler, werden als riesengroße Raubvögel wieder geboren, die anderen als Kriegsflugzeuge. Dass sich schließlich auch hier wieder „Capitano Jori“ als maßgeblich für den Verlauf dieser Schlacht herausstellt, hätte etwas von einem, von Geschichtsmoment zu Geschichtsmoment stolpernden Forrest Gump, wenn der Kapitän da nicht auf einer Mission wäre.

  • Buchvorstellung: Marcello Jori ist sich bewusst, dass das, was er da gemalt und geschrieben hat, vermutlich anecken wird, zeigt sich aber ganz und gar furchtlos. Foto: SALTO

     

    In Mangas und Anime (der verfilmten Form) sehen wir uns häufig mit Protagonisten konfrontiert, die bewusst als langweiligste Figur einer Geschichte (meist im Oberschulalter, wie die meisten Leser:innen, mit braunen Haaren und Augen, sowie bis zum Ruf des Abenteuers überaus durchschnittlich) in Erscheinung treten. Zu einem solchen Allerweltsjugendlichen, unter Fans als „self-insert-character“ kritisiert, ist Marcello Joris „Capitano Jori“ das genaue Gegenteil, neben dessen Gesicht sich auf einigen Seiten kein Platz mehr findet. 

  • Fast möchte man sich vorstellen, wie die Verlagsfunktionäre von Kōdansha, die Marcello Jori für die Zusammenarbeit eine Cart Blanche und „das Dreifache an dem, was ich in Italien verlangen könnte“, zugestanden haben, sich einen solchen „self-insert-character“ als Zugeständnis gewünscht haben. Marcello Jori, klassisch gebildet, dachte dabei vielleicht an van Eyck, Michelangelo und Raphael, die sich selbst in ihre Werke eingefügt haben. Freilich ist auch das nur ein Märchen, aber wenn der Künstler alles darf, dann will ich mir das zumindest vorstellen können. Für mich war es ein Buch, das ich durch die Bilder recht rasch und mit Bauchschmerzen gelesen habe, aber eben auch nicht gut aus der Hand legen konnte. 

    Ach ja, dann war da noch das Ende der Sterblichkeit, mit einem Tod, der schon am Cover an Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“ erinnert und - ein klassisches Motiv -  überlistet werden muss. Statt den Tod allerdings „nur“ auszutricksen, begräbt Jori ihn zum Wohle der Menschheit. Das schöne und paradoxe Bild steht ganz am Ende der Graphic Novell die keine sein will. Für Moderator Antonio Lampis hat es das noch nie gegeben und um sich darin abzusichern hat er ChatGPT-4 befragt (die aktuellste, bezahlpflichtige Version). Wir haben das nachgeprüft und sind ebenfalls auf kein Beispiel gestoßen. Aber selbst wenn wir für uns die Fragen, ob ein Künstler alles darf und kann, mit ja beantworten wollen, so bleibt doch die Frage: Soll und muss er?

  • Per info & suggerimenti / Für weitere Fragen & Anregungen: [email protected] 

    Con il supporto di / Mit der Unterstützung von Alte Mühle Meran/o.

  • Foto: Alte Mühle