Society | Interview
„Nicht alle bringen ihre Eltern um“
Foto: Sabes
Der Südtiroler Sanitätsbetrieb hat eine Onlinebefragung zur medialen Berichterstattung des Elternmordes 2021 in Bozen und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Mitarbeiter*innen des Psychiatrischen Dienstes gestartet. Leiter der Studie ist der Primar der Psychiatrie in Bozen, Andreas Conca. In der Medienwelt sorgt die Initiative für Gesprächsstoff. Lissi Mair, Präsidentin der Journalistenkammer Trentino-Südtirol, bezeichnet einige der gestellten Fragen in der Erhebung im Gespräch mit salto.bz als „tendenziös“.
salto.bz: Herr Conca, was ist der Anlass für die Onlinebefragung?
Andreas Conca: Der Anlass war diese unheimliche und grausame Tat in unmittelbarer Nähe und vertrauter Umgebung, die Bürger*innen berührt und betroffen hat. Darunter sind auch Personen, die im psychiatrischen Dienst arbeiten oder dort Patient oder Patientin sind, ebenso wie unsere Freunde. Daraus haben wir die Frage der Studie abgeleitet, wie und warum diese Betroffenheit entstanden ist.
Viele Menschen haben diese Persönlichkeitsstörung, das heißt aber nicht, dass sie alle ihre Eltern umbringen.
Welches Ziel wird bei der Studie verfolgt?
Jede wissenschaftliche Studie sollte eine Basishypothese haben. Unsere Studie baut auf drei Hypothesen auf: Erstens wird diese Tat in ein Naheverhältnis zu psychiatrischen Erkrankungen gebracht. Zweitens sind psychiatrische Erkrankungen noch immer sehr stigmatisiert und werden als etwas Unheimliches und nicht Leistbares verstanden. Die dritte Hypothese ist, dass durch die Berichterstattung und Prozessführung die Vorurteile gegenüber den psychiatrischen Erkrankungen eher gestiegen als gesunken sind. Mit dieser Studie wollen wir herausfinden, ob die allgemeine Bevölkerung diesen Vorurteilen tatsächlich erliegt.
Wie ist der zeitliche Ablauf der Studie?
Die ersten zwei Wochen der Onlinebefragung sind für uns entscheidend, um einen Großteil der Bevölkerung zu erreichen. Haben in diesem Zeitraum nicht genügend Menschen daran teilgenommen, um repräsentative Ergebnisse zu erhalten, werden wir eine zweite Periode einlegen müssen. Die maximale Laufzeit der Studie könnte also vier bis fünf Wochen betragen.
Bestimmte Berichte waren sensationslustig und förderten damit mehr Vorurteile, anstatt aufzuklären.
Wie beurteilen Sie selbst die Berichterstattung zum Fall?
Ich muss gestehen, dass ich nicht die gesamte Berichterstattung analysiert habe, das macht ein Kollege in Catania mit einer eigenen wissenschaftlichen Studie. Die Berichterstattung, die ich gesehen habe, war zum Teil sehr gut, informativ und sachlich. Bestimmte Berichte waren sensationslustig und förderten damit mehr Vorurteile, anstatt aufzuklären.
Der italienische Journalist Matteo Macuglia hat bereits ein Buch zum Fall geschrieben und kritisiert im Interview mit salto.bz die sogenannte Basaglia-Reform im psychiatrischen Bereich. Diese erlaubt keine erzwungene Behandlung.
Die Basaglia-Reform in Zusammenhang mit Benno Neumair zu bemühseligen, ist ein gewagtes Unternehmen, weil daraus irreführende Schlüsse gezogen werden können. Es ist zwar ein interessanter Diskussionspunkt für die öffentliche Meinung, aber irreführend. Denn eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung beeinträchtigt nicht die Zurechnungsfähigkeit einer Person, sie hat also für ihre Taten Verantwortung zu tragen. Was die Behandlung betrifft, kann die Person ihre Persönlichkeitsstörung behandeln lassen, muss aber nicht. Die Störung wäre mit einer erzwungenen Behandlung auch nicht lösbar. Deshalb ist es falsch, die Basaglia-Reform in diesem Zusammenhang zu erwähnen.
Das kann ich nicht ganz nachvollziehen.
Sie nehmen vielleicht an, dass mit einer anderen Handhabung der Basaglia-Reform der Elternmord verhindert hätte werden können. Das ist falsch. Wenn die Persönlichkeitsstörung tatsächlich eine psychische Erkrankung ist, dann ist sie nicht für die Straftat verantwortlich.
Wir wollen sie auffordern, darüber nachzudenken, was psychische Störungen sind und welche Vorurteile an ihnen haften.
Verstehe.
Sie sind dem Vorurteil auferlegen – deshalb machen wir diese Studie. Denn das ist genau das, was passiert. Man setzt etwas in Verbindung, was nicht in Verbindung zu bringen ist: Viele Menschen haben diese Persönlichkeitsstörung, das heißt aber nicht, dass sie alle ihre Eltern umbringen.
Sie wollen mit dieser Studie also auch erreichen, dass psychische Störungen nicht mehr so stigmatisiert werden und dabei aufzeigen, dass sie nicht automatisch zu kriminellen Handlungen führen.
Genau, das haben Sie jetzt vollkommen richtig erkannt. Es geht nicht nur darum, die Hypothesen der Studie zu überprüfen, sondern auch darum, die Bevölkerung aufzurütteln. Wir wollen sie auffordern, darüber nachzudenken, was psychische Störungen sind und welche Vorurteile an ihnen haften.
Wie beurteilen Sie das Urteil des Schwurgerichts zum Fall Benno Neumair?
Mit meinem derzeitigen Wissenstand über den Fall finde ich es kohärent, richtig und nachvollziehbar.
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