Hebamme Klara - Sarner Frauengeschichten
Als Tochter einer vielköpfigen Bauernfamilie beschloss Klara Thaler selbstbewusst, einen anderen Weg zu gehen als viele junge Frauen: Ohne Unterstützung holte sie die Mittelschule nach und wurde Hebamme. Bescheiden schildert Klara die Zeit der Ausbildung in Padua Anfang der 1950er-Jahre und ihren entbehrungsreichen Alltag, der von harter Arbeit zu jeder Tages- und Nachtzeit geprägt war. Die freudigen, aber auch die leidvollen Momente, an denen sie als Hebamme teilhaben durfte, lassen sie ehrfürchtig auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Klaras Erzählungen wurden von Anita Runggaldier, die selbst Hebamme ist, aufgenommen und in Buchform bei Edition Raetia gegossen, ergänzt durch die Geschichten von fünf Sarner Frauen, die beschreiben, wie sie Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in einer von Männern dominierten Gesellschaft erlebt haben.
Das Buch "Hebamme Klara" wird am Dienstag, 24. März um 20 Uhr im Sarner Bürgerhaus vorgestellt. Es gibt eine Gesprächsrunde mit der Autorin und den Sarner Frauen Karolina Gasser Stofner, Klara Thaler Stuefer, Anna Unterkalmsteiner Thaler und Rosa Marzoner Villgrattner.
Anita Runggaldier, seit 2004 Hebamme im Gesundheitsbezirk Meran, zwei Jahre in der Hebammenausbildung tätig. Außerdem ausgebildete Kursleiterin für Schwangerenschwimmen, Beckenbodengymnastik und Babymassage. Die Sommer verbringt sie gerne auf der Alm, um in der Natur einen Ausgleich zu ihrem Beruf zu finden.
Hier ein Kapitelauszug aus dem Buch.
Schattenseiten des Hebammenberufes
Als Hebamme Neugeborene mit ihren Eltern als Erste auf dieser Welt willkommen zu heißen, ist immer ein besonderer und einzigartiger Augenblick, in dem die Ehrfurcht vor dem Leben jedes Mal groß ist. Jedoch birgt auch der Beruf der Hebamme nicht nur Glücksmomente, sondern auch Schattenseiten, die jede Hebamme an der eigenen Berufung zweifeln lassen. Die Zeit lässt schreckliche Erinnerung teils verblassen, doch manche Erlebnisse bleiben im Gedächtnis, als wären sie erst gestern geschehen. Für Klara ist es bis heute schwierig, über besondere Geburtserlebnisse zu sprechen, so sehr kommen die damals verspürten Gefühle wieder hoch. Die Tatsache, dass Klara mir sechzig Jahre später noch genau von dem schlimmsten Ereignis in ihrer Hebammentätigkeit erzählen kann, zeugt davon, wie stark ein Mensch traumatische Ereignisse verinnerlicht. Ich brauchte sie nicht darauf anzusprechen, sondern sie begann eigenmächtig zu erzählen, anfangs unter der Bedingung, dass es nicht veröffentlicht werde. In dieser Situation fühlte Klara nichts anderes als blanke Ohnmacht. Die Gewissheit, Dinge nicht ändern zu können, bedeutete auch, sie eben aushalten zu müssen. Ich spürte in Klaras Erzählungen keine Wut darüber, wie sie damals behandelt worden war. Aber es war klar, dass sie jene Zeit stark geprägt und sie einiges im Umgang mit Menschen gelehrt hatte. Sie, die geglaubt hatte, alles getan zu haben, war unsäglich enttäuscht von der Reaktion der Menschen und davon, wie es einigen so leicht fiel, voreilig zu urteilen, ohne die genauen Umstände zu kennen.
Klara war erst seit einem Jahr Hebamme im Sarntal, als sie zum schlimmsten Erlebnis ihrer Tätigkeit als Hebamme in all ihren Arbeitsjahren gerufen wurde. Eine schwangere Frau aus einem Seitental des Sarntals wollte bald ihre Dienste in Anspruch nehmen. Im Dorf erzählte man sich, dass die Mutter der Schwangeren bei ihrer letzten Geburt aufgrund einer Gebärmutterruptur verstorben sei. Nun war dies bereits die sechste Geburt der Schwangeren und ihr wurde das gleiche Schicksal prophezeit. Auch sie selbst behauptete, dass sie diese Geburt nun nicht mehr überleben würde. Trotzdem bestand die Frau darauf, zu Hause zu gebären – und sie wollte Klara als Hebamme, obwohl diese noch relativ unerfahren war. Der Arzt riet Klara davon ab, die Frau zu Hause zu betreuen. Er meinte sogar, Klara brauche im Notfall gar nicht nach ihm rufen lassen, denn er würde nicht kommen. Klara wollte den Gerüchten um diese Schwangere keine Aufmerksamkeit schenken, machte sich jedoch zusehends mehr Sorgen. Also machte sie sich auf nach Bozen zur Provinzialhebamme und informierte sich bei ihr, ob sie denn die Frau betreuen müsse oder ob sie einfach ablehnen sollte. Die Antwort war eindeutig: Jede Schwangere habe das Recht, von einer Hebamme betreut zu werden, unabhängig vom Ausgang der Geburt. Die pflichtbewusste Klara wusste, dass sie dem Wunsch der Gebärenden nachkommen musste, und so nahm das Schicksal seinen Lauf.
Eines Abends kam Klaras Nachbar mit der Nachricht zu ihr, es sei so weit, die Frau sei in den Wehen. Er fuhr sie mit dem Auto zu dem Bauernhof und Klara bat ihn, er möge mit dem Auto so lange warten, bis die Frau geboren habe, falls es zu Komplikationen kommen würde. Klara traute ihren Augen nicht, als sie die Küche betrat: Die Bäuerin war noch spät abends, so gegen 21 Uhr, dabei Striezl zu backen. Man hatte viel zu früh nach ihr rufen lassen. Doch bei näherem Beobachten fiel Klara auf, dass die Bäuerin in immer kürzeren Abständen ganz plötzlich innehielt und ein rotes Gesicht bekam. Also hatte sie doch Wehen und ließ es sich nur nicht anmerken. Klara nutzte die Zeit und bereitete alles für die Geburt vor.
Zwar versuchte sie noch, die Schwangere und ihren Mann von einer Geburt im Spital zu überzeugen, musste sich jedoch mit einem klaren Nein abfinden. Der Entschluss, zu Hause zu gebären, war bei der Gebärenden in der gesamten Schwangerschaft gereift. Klara redete auch auf ihren Mann ein, der jedoch die Entscheidung seiner Frau unterstützte. Klaras Sorge und das ungute Gefühl wurden verstärkt, als die Schwangere meinte: „Wenn i heint stirb, donn müesch du mir versprechn, dass du mir bis zin Schluss die Hond hebsch und bi mir bleibsch.“ Klara verließ kurz den Raum, um auf der Toilette zu beten, wie sie es immer tat, wenn sie in Nöten war. Nun hatte sie tatsächlich auch Angst bekommen – eine ungute Stimmung lag auf dem ganzen Haus.
Es dauerte keine Stunde, bis die Bäuerin zu Klara meinte, sie müsse sich nun hinlegen, denn das Kind käme zur Welt. Die Frau hatte recht: Nur wenige Minuten später hatte sie einen Jungen zur Welt gebracht. Der Knabe hatte deformierte Füße, war sonst jedoch wohlauf. Die Geburt war unkompliziert und schnell verlaufen, aber sofort danach fing die Frau an stark zu bluten. Klara blieb das Herz stehen. Sie konnte nun nichts mehr tun. Alle Maßnahmen, die Blutung zu stillen, misslangen, die Frau blutete nur umso stärker, als sie beispielsweise versuchte, die Gebärmutter zu massieren oder sie mit einer Hand festzuhalten. Klara unternahm alles, was in ihrer Macht stand, und ließ sofort nach dem Arzt rufen. Sie kümmerte sich kurz um die Versorgung des Neugeborenen, um sich dann wieder der Frau zuzuwenden. Doch die Blutung hörte einfach nicht auf. Der Arzt kam ziemlich schnell, nach einer halben Stunde, und schimpfte sofort nach seiner Ankunft drauf los: „Da kann ich nichts mehr tun.“ Er gab der Bäuerin eine Spritze, damit sich die Gebärmutter stärker zusammenzog, tobte aber immer weiter: Er habe es ja gewusst und nun sei alles zu spät. Klara war verzweifelt, erinnerte sich jedoch noch, dass sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte, in einem solchen Fall die Blutung aus der Scheide mit einem Tuch zu tamponieren und die Frau so schnell wie nur möglich nach Bozen zu bringen, damit ihr die Gebärmutter entfernt würde – nur dann würde sie aufhören zu bluten. Der Arzt tobte noch mehr und wiederholte nochmals: „Hier ist nichts mehr zu machen!“ Jeder der Anwesenden wurde beschimpft, der Ehemann, Mägde und Knechte. Klara blieb die ganze Zeit bei der Frau und hielt ihr den Kopf.
Bald verlangte die Frau, dass nach dem Pfarrer gerufen werde, der kurze Zeit später bereits bei ihr eintraf. Die Stunden vergingen und Klara empfand eine Mischung aus tiefer Trauer und Wut einerseits und einer unendlichen Hilflosigkeit andererseits. Sie wich nicht von der Seite der Sterbenden, wie diese es gewünscht hatte. Als sie dringend auf die Toilette musste und der Frau versprach, sicher wiederzukommen, kam einer der Söhne der Bauern die Holztreppe heruntergelaufen. Er wollte unbedingt zu seiner Mutter. Klara nahm den Jungen in ihre Arme und versuchte ihn zu trösten. Der Arzt, der das Geschehnis mitverfolgt hatte, meinte in einem abschätzigen Tonfall: „Jetzt kümmert sie sich auch noch um den Jungen.“ So wurde dieser von einer Magd wieder in seine Kammer begleitet und durfte nicht zu seiner Mutter. Schweren Herzens kehrte Klara zurück zu der sterbenden Frau – am liebsten wäre sie jetzt irgendwo anders gewesen. Große Zweifel an ihrem Beruf erfüllten sie: Wäre sie doch Dienstmagd geblieben, was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Dennoch ging sie zurück zur Frau und hielt ihr die Hand, denn auch sie musste den Schmerz der Sterbenden aushalten. Jede Minute schien ihr eine Ewigkeit zu dauern. Gegen fünf Uhr morgens verstarb die Frau dann.
Hebamme Klara - Sarner Frauengeschichten von Anita Runggaldier, Edition Raetia, 19,90 Euro, 224 Seiten Hardcover, ISBN 978-88-7283-514-2