Roland Benedikter: "Das EU-Parlament muss mehr sein als ein Absegnungsapparat"
Die Wahlen zum EU-Parlament werden in den Medien breit diskutiert. Man hat den Eindruck, dass das Interesse an Europa, trotz der vielzitierten Distanz, doch vorhanden ist?
Das hoffe ich sehr. Wir brauchen ein vereinigtes Europa, das sich selbst ernst nimmt und auch stolz auf sich und seine vielen Eigenheiten und Andersheiten im Konzert der Weltmächte ist, mehr denn je. Wir brauchen es gerade heute, wo neue Spannungen in vielen Teilen der Welt und auch an den europäischen Grenzen ausbrechen. Die gute Nachricht ist: Die Krise ist im wesentlichen überwunden, es geht aufwärts. Da kommen diese Wahlen gerade zum richtigen Zeitpunkt. Was das Interesse betrifft, kommt es aber darauf an, unter welchem Gesichtspunkt wir es sehen. Es gibt meiner Meinung nach drei Sichtweisen: Lokal, national, europäisch.
Also?
Lokal in Südtirol ist das Interesse offenbar zuletzt gestiegen. Die Gründe haben mit der Öffnung der neuen Generation (vergessen wir nicht: wir haben fünf Jahre nicht gewählt, nämlich seit 2009, was viel zu lang ist, wenn man die vielen Krisen seitdem bedenkt!), mit der Tendenz zur Entglobalisierung, aber auch mit dem Aufstieg der EU-Skeptiker zu tun. Man besinnt sich wieder stärker auf das Eigene, aber auch das größere Eigene, und das Europa-Thema profitiert davon. Auf italienischer Ebene herrscht Politikverdrossenheit vor, die man ebenfalls an einer Reihe von Aspekten festmachen und als europäischer Bürger gut verstehen kann. Diejenigen, die innerstaatlicher Zentralisierung ablehnend gegenüberstehen oder sogar, wie die Bürger des Veneto, vom Zentralstaat unabhängig werden wollen, bauen auf Europa. Europäisch dürften Interesse und Beteiligung aber insgesamt eher stagnieren, trotz der leidenschaftlichen Aufrufe von Intellektuellen wie etwa Ulrich Beck in Deutschland. Andere, wie die Bild Zeitung, machen gerade jetzt Stimmung gegen den „europäischen Zentralismus“. Die Bemühungen von Journalisten, öffentlichen Intellektuellen und Meinungsmachern sind heuer größer als bei vergangenen Wahlen, weil durch die jahrelange Krise das Bewusstsein stärker geworden ist, dass wir ein gemeinsames europäisches Projekt, eine gemeinsame „große“ Vision brauchen, auch einen transnationalen europäischen Idealismus und eine europäische, säkulare und aufklärerische Zivilreligion, die uns über Grenzen hinweg vereint. Das ist ein Fortschritt.
Der Maßstab für den Erfolg des europäischen Projekts bei den Wählern ist aber ein anderer?
Der Maßstab können nicht die Presse oder die Intellektuellen und ihre Bemühungen um Öffentlichkeit sein, sondern letztlich nur die Wahlbeteiligung. Und das gilt auch nur innereuropäisch. Vergessen wir nicht: International besehen, also aus der Sicht der beiden Weltmächte Amerika oder China, gibt es das Thema „Europaparlament“ kaum bis gar nicht. Sowohl in den USA wie in Asien wird das Europäische Parlament nicht ernstgenommen, und es ist auch kein politischer Ansprechpartner, sondern nur ein „good-will“ Gegenstand. Als letztens im März sowohl US-Präsident Barack Obama wie der chinesische Präsident Xi Jinping das Europa-Parlament besucht haben, war das mehr wie ein Ausflug in einen Themenpark, ein Zeichen, auch dem weniger Wichtigen in Europa Sympathie entgegenzubringen. In den amerikanischen oder chinesischen Medien sind diese Wahlen kaum bis nicht präsent, weil man weiss, dass sie trotz ihrer beeindruckenden Größe - immerhin nach Indien die zweitgrößten Wahlen der Welt - kaum echte politische Bedeutung haben. Da war es ja fast schon eine Aufwertung, dass sich die NSA die Mühe gemacht hat, das Europaparlament abzuhören; in den USA sehen viele das ironisch als ein Zeichen der „Wertschätzung“, was mich ärgert.
Und innerhalb Europas?
Innerhalb Europas steht sehr wohl einiges auf dem Spiel, obwohl das Europaparlament mit wenig wesentlichen Neuerungen gewählt wird. Es ist aber die erste Wahl nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und wird also eine Neuverteilung der Sitzzahl pro Land bringen. Ausserdem treten zum ersten Mal verschiedene Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten an, die verschiedene Modelle für die Zukunft Europas vertreten. Das ist heuer erstmals ein Richtungswahlkampf, und damit kommen wir den Spielregeln eines normalen demokratischen Parlaments schon näher. Die heurigen Wahlen sind ein Schritt in die richtige Richtung.
Was bedeuten diese Wahlen jetzt politisch für Europa, was steht auf dem Spiel?
Auf dem Spiel steht in erster Linie die längst überfällige Entstehung einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit. Es gibt sehr wenige Momente, wo sich die europäischen Bürger wirklich als Europäer fühlen und nicht nur dem Nationalstaat oder ihrer Region zugehörig. Der europäische Song Contest ist einer der wenigen, wenn auch banalen Anlässe, wo so etwas wie ein europäisches Gemeinschaftsgefühl entsteht. Sogar dieses bleibt allerdings, wie wir zuletzt mit Conchita Wurst gesehen haben, eine recht kontroverse Identität.
Und der zweite Anlass ist das Europäische Parlament.
Ja. Solange das Parlament nicht wirkliche Entscheidungskraft und mehr Einfluss auf die europäische Regierung hat, ist an ihm weniger die politische Dimension wichtig, als das Entstehen eines Bewusstseins für die europäische Zusammengehörigkeit. Im Prinzip ist diese Wahl mehr ein Akt der Bewusstseinsbildung als ein politischer Akt, obwohl man die politische Dimension nicht kleiner reden soll, als sie ist. Wir brauchen in Europa als Voraussetzung für größere politische Einheit unabdingbar eine gemeinsame Öffentlichkeit, zusammen mit einer Zivilreligion, die sich aus den Werten der säkularen Aufklärung speist: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und zwar alle drei ausgewogen und gleich gewichtet, nicht wie in den USA Freiheit auf Kosten von Gleichheit und Brüderlichkeit oder wie in China von oben verordnete Brüderlichkeit ohne Freiheit und mit immer weniger Gleichheit. Wenn die Wahlen dazu beitragen, das Bewusstsein für das Eigene und Einmalige dieser Ausgewogenheit und Gleichgewichtung im Konzert der Weltmächte in den Herzen der europäischen Bürger zu verankern, ist schon viel erreicht.
Und die politische Dimension im engeren Sinn?
Bis das Europaparlament nicht wirklich ein solches ist, denn bisher ist es mehr oder weniger nur ein Absegnungsapparat für die von den Nationalstaaten getroffenen Entscheidungen, hat es politisch wenig Relevanz. Es gibt übrigens auch kaum Proteste vonseiten der europäischen Bürger gegen den ausufernden Brüsseler Lobbyismus, was an sich schon ein Zeichen von Bedeutungslosigkeit ist. Der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt schlägt zur Aufwertung einer gemeinsamen europäischen Regierung eine „Revolution“ des Parlaments gegen die Kommission und gegen die Versammlung der Nationalstaaten vor, also gegen den Europäischen Rat. Das Parlament soll durch Blockade von Beschlüssen der EU-Kommission bewirken, dass es wie in normalen Demokratien der Souverän und also die Regierung von ihm abhängig wird, statt wie bisher umgekehrt. Das würde das europäische Projekt mit einem Schlag unglaublich aufwerten. Die Frage lautet aber, was heißt eine Revolution und wann soll sie stattfinden. Die kann eigentlich nur jetzt stattfinden, wo die Wahl passiert, weil später schaut niemand mehr hin.
Teil 2 des Interviews folgt demnächst