“Ein Teufelskreis der Scham und Schuld”
Was Lucia Azzolina Anfang Juli passiert ist, ist kein Einzelfall. Fotos der Bildungsministerin am Strand, im Bikini, landeten in diversen italienischen Klatschblättern – mit unschönen Kommentaren zu ihrem Körper. “Bodyshaming” nennt sich das Phänomen, wenn Personen wegen ihres Aussehens angegriffen, beleidigt, gedemütigt werden. Und es ist kein Zufall, dass es in den allermeisten Frauen trifft, wie die Psychologin Angelika Fauster* erklärt.
salto.bz: Frau Fauster, was genau meint der Begriff “Bodyshaming”?
Angelika Fauster: Bodyshaming bedeutet “sich für den Körper schämen” und stellt ein mittlerweile stark verbreitetes Phänomen unserer Gesellschaft dar. Dabei geht es darum, dass der eigene und/oder der Körper anderer als Anlass für Beleidigung, Abwertung, Ausgrenzung und ähnliche Verhaltensweisen benutzt wird, die großen seelischen Schmerz verursachen können.
Die unbewusste Absicht besteht meist darin, sich selbst besser zu fühlen, indem der andere abgewertet wird
Welche Formen von Bodyshaming gibt es?
Hier ist es für mich hilfreicher über Ebenen statt Formen zu sprechen. Wenn sich jemand ständig wegen des eigenen Körpers oder Teilen davon abwertet, sich selbst immer als Fundort von Makeln und Fehlern lebt, dann sprechen wir von Bodyshaming auf individueller Ebene. Wenn jemand den Körper anderer benutzt, um Kritik und Abwertung aus zu üben, indem er oder sie beleidigt, urteilt, auslacht oder ausgrenzt, dann geschieht Bodyshaming auf zwischenmenschlicher Ebene. Und wenn in Social Media, Werbung und Gesellschaft permanent ein Schönheitsideal angepriesen wird und alles, was davon abweicht als “nicht ausreichend, nicht gut genug” definiert wird, kann das als kollektives Bodyshaming bezeichnet werden.
Wen betrifft Bodyshaming hauptsächlich?
Vor allem betrifft es Menschen, deren äußeres Erscheinungsbild nicht in das gängige Konzept von Schönheit und Angemessenheit passt. Das können besonders dicke wie dünne Menschen sein, auffallend groß- oder kleinwüchsige, aber auch Menschen mit Körperteilen, die im Wachstum andersartig sind, werden Opfer von Bodyshaming. Manchmal betrifft es auch Menschen, die sich für eine alternative Körperpflege entscheiden, zum Beispiel sich nicht zu rasieren oder keine Kosmetik zu verwenden.
Vor allem Frauen sind immer noch von alten Mustern und Glaubenssätzen geprägt, die bewirken, dass wir sehr hohe Erwartungen an uns selbst haben und sehr streng mit uns selbst umgehen, uns selten gut genug sind
Von wem geht diese Art der Selbst- oder Fremddemütigung vorwiegend aus? Mit welcher Absicht?
Meistens handelt es sich um Menschen, die es gewohnt sind, sich und andere über das Äußere zu definieren und die wenig Fähigkeiten haben, von einer rigiden Vorstellung “wie es zu sein hat” abzuweichen. Deswegen geben sie sich das Recht, Menschen, die anders aussehen, dafür zu verurteilen und abzuwerten. Bodyshaming enthält einen zunächst unbewussten Teufelskreis der Scham und Schuld. Die unbewusste Absicht besteht meist darin, sich selbst besser zu fühlen, indem der andere abgewertet wird. In Wirklichkeit aber lösen Verhalten wie Beleidigen, Verurteilen, Demütigen, Ausgrenzen usw. im Inneren bei Täter wie Opfer Gefühle von Schuld, Scham und Minderwertigkeit aus. Ein reiner Verlust an menschlichem Potential sozusagen.
Welche Folgen können sich für Betroffene entwickeln?
Bodyshaming kann sehr schmerzvoll sein. Je nachdem, in welchem Alter und in welcher Heftigkeit es erlebt wird, kann es zu Selbstwertproblemen, sozialen Schwierigkeiten, Verlust des Selbstvertrauens, Verlust der Impulskontrolle, Angst und Depression führen.
Besteht ein Zusammenhang zwischen Sexismus und Bodyshaming? Falls ja, welcher?
In beiden Fällen geht es um bewusste oder unbewusste Diskriminierung und Abwertung anderer auf der Grundlage sozial geteilter Theorien und rigider Anschauungen.
Beim Sexismus passiert das Ganze auf der Basis des Geschlechts, während beim Bodyshaming die Andersartigkeit des Körpers die Basis bzw. den Anlass darstellt. Beides führt zu sehr unangenehmen Gruppendynamiken und schlussendlich zu persönlichen Einbußen.
Verhalten wie Beleidigen, Verurteilen, Demütigen, Ausgrenzen usw. lösen im Inneren bei Täter wie Opfer Gefühle von Schuld, Scham und Minderwertigkeit aus
Öffentlich diskutiert werden immer wieder Fälle, in denen Frauen Opfer von Bodyshaming werden. Warum scheinen wir uns immer noch nicht von der Vorstellung verabschiedet zu haben, dass es einen “idealen” Körper, einen “idealen” Frauenkörper gibt?
Das hat viele Gründe, denke ich. Zum einen war es immer schon so, dass sich der Mensch ein Ideal der Schönheit geschaffen hat, dem es so quasi zu entsprechen galt. Zum anderen hat hier, wie in allen anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, der Materialismus und das daraus folgende Konsumverhalten einen großen Einfluss. Der Markt – in diesem Falle vor allem Kosmetik, Mode und Schönheitschirurgie – macht sich das Minderwertigkeitsgefühl des Menschen zunutze. Im Menschen sitzt die Annahme, nicht gut genug zu sein und alles Mögliche kaufen zu müssen, um zu entsprechen. Und nicht zuletzt liegt es an uns selbst – vor allem den Frauen –, dass wir immer noch geprägt sind von alten Mustern und Glaubenssätzen, die bewirken, dass wir sehr hohe Erwartungen an uns selbst haben und sehr streng mit uns selbst umgehen, uns selten gut genug sind. Das macht uns natürlich anfällig für unrealistische Vorstellungen und nicht erreichbare Ideale, nicht zu reden von Werbe- und Marktfallen.
Was braucht es auf gesellschaftlicher Ebene bzw. in der Erziehung und Bildung um ein realistisches Bild von (Frauen-)Körpern zu vermitteln?
Ich denke es ist wichtig, Werte zu vermitteln, die unseren individuellen Bedürfnissen entsprechen und nicht an ein oberflächliches Ideal angepasst. Die Vielfältigkeit und Andersartigkeit von Menschen sollte als Chance für ein spannendes Miteinander und nicht als Grund von Spaltung gelesen und gelebt werden. Es ist hilfreich, wenn eine ganzheitliche Gesundheit vorgelebt und angestrebt wird, wo eine liebevolle, fürsorgliche und respektvolle Haltung sich selbst und anderen gegenüber an erster Stelle steht. Auch finde ich es wertvoll, wenn wir als Gesellschaft mehr auf die Natur und ihre Wirkkraft achten und ihre Gesetzmäßigkeiten anerkennen und befolgen. Dadurch werden wir dankbar und entwickeln die Kraft der Akzeptanz. Eine gesunde Portion an Toleranz und Offenheit sowie die Freude und Lust an persönlicher Entwicklung unterstützen die Entwicklung stimmiger (Frauen-)Körperbilder zudem.
Die Vielfältigkeit und Andersartigkeit von Menschen sollte als Chance für ein spannendes Miteinander und nicht als Grund von Spaltung gelesen und gelebt werden
Nehmen Sie wahr, dass sich etwas in diese Richtung tut?
Ja, ich finde schon, dass sich in den letzten zehn Jahren viel Gutes getan hat diesbezüglich. Es gibt zahlreiche Sensibilisierungskampagnen, Einrichtungen wirken mit unterschiedlichen Projekten präventiv und auch die Menschen selbst sind offener und toleranter geworden, finde ich. Doch da gibt es natürlich noch ganz viel Luft nach oben.
Was kann jede/r einzelne tun, um diesem diskriminierenden Verhalten entgegenzuwirken?
Jede/r von uns kann bei sich selbst anfangen und sich täglich darum bemühen, mit sich und dem eigenen Dasein zufrieden zu sein. Dabei hilft es, sich selbst und dem Leben mit einer gewissen Demut und Dankbarkeit zu begegnen, den eigenen Körper als Geschenk zu sehen, einen gewinnbringenden Blick auf die eigenen Makel und Schwächen zu entwickeln und anderen ebenso zu begegnen. Wir sollten uns immer wieder darauf besinnen, was wir wirklich brauchen und worum es uns wirklich geht, damit wir uns selbst gut versorgen und uns vor manipulativen Botschaften und schädlichen Fremdeinflüssen schützen. Abschließend finde ich es sinnvoll, dass wir darauf achten, uns mit Menschen zu verbinden, die uns gut tun und uns stärken, damit sich Potentiale vermehren und wir als Gesellschaft stärker werden, damit zerstörerische Phänomene wie das Bodyshaming weniger Raum kriegen.
>Und es ist kein Zufall, dass
>Und es ist kein Zufall, dass es in den allermeisten Frauen trifft, wie die Psychologin Angelika Fauster erklärt.<
Gibt es dafür auch fundierte Studien?