Politics | Alzheimer

Mama, bitte hab eine andere Krankheit!

Demenz ist eine Familienkrankheit. Nachdenken zum Weltalzheimertag am 21. September
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Als bei meiner Mutter klar wurde, es ist Demenz, da hab ich mir gedacht, dass ich nie mehr glücklich sein werde. Das Wissen, meine gescheite, begabte, organisationstüchtige und so durch und durch liebenswerte Mama könne ihre Persönlichkeit verändern, ja, sie verlieren und wir mit ihr - es war mir unerträglich. Ich hätte ihr eine andere Krankheit gewünscht. Demenz ist eine Familienkrankheit. Sie dringt tief in Familien- und Beziehungssysteme ein und verändert sie völlig. Alltage müssen umgestellt werden. Prioritäten verlagern sich. Freiheiten schwinden. Sicherheiten entgleiten. 
Demenz ist etwas, das niemand möchte und das wir niemandem wünschen. In seinem Buch „Über das Sterben“ spricht Palliativmediziner Gian Domenico Borasio von einer Studie, in der Menschen befragt wurden, wie sie sterben möchten. Die meisten möchten sehr schnell sterben, zum Beispiel durch Herzinfarkt. Ein kleinerer Teil würde einen längeren Abschied bevorzugen, zum Beispiel durch eine schwere Erkrankung. Beinahe niemand wünscht sich das langsame, oft Jahre währende Aus-dem-Leben-Scheiden mit Demenz.

Es ist verständlich. Selbstbestimmtheit gehört zu den großen Errungenschaften unserer Zeit. Die Demenz entzieht genau sie. Der betroffenen Person, und ihrem Umfeld. Deshalb müssen wir Demenz „sozialisieren“. Solange sie zurückgedrängt wird auf das Einzelschicksal, auf die einzelne Wohnung, hinter deren Tür sie sich abspielt, solange bleiben Menschen und Familien damit allein – und erkranken zusammen. An Einsamkeit, Scham, Überlastung, Überforderung und auch Verarmung.

Es ist immer wieder zu sagen: Genauso wie es heißt, „um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, muss es auch für Demenz heißen: „um eine Person mit Demenz zu begleiten, braucht es ein ganzes Dorf“. Niemand darf mit Demenz allein bleiben. Wir brauchen daher erstens Enttabuisierung: Über Demenz reden, heißt, sie aus der Ecke der Scham und des Versteckens herauszuholen und aktiv zu werden. Wegschauen ist nicht mehr möglich. Ich danke der Alzheimervereinigung persönlich dafür, dass sie immer wieder aufmerksam macht, immer wieder das Thema aufwirft, aufrüttelt und die Gesellschaft mit Demenz konfrontiert.
Wir brauchen zweitens Begleitung und Unterstützung jener, die begleiten und unterstützen. Die pflegenden Angehörigen müssen entlastet werden. Sie brauchen flexible und modulare Angebote, sowohl finanziell wie zeitlich. Auszeiten aus der Pflege müssen möglich sein, damit sie nicht selbst „vor die Hunde gehen“.
Und schließlich müssen wir uns systemisch vorbereiten, auf das was uns erwartet. Nachdem immer mehr Menschen immer älter werden, ist mit Zunahme von Demenz zu rechnen. Zugleich gibt es immer weniger Menschen (vor allem: Frauen), die sich der Pflege der Angehörigen widmen können, da sie selbst sehr lange im Erwerbsleben stehen. Hier ist dringender politischer Handlungsbedarf, sei es was Personal, als auch was die Einrichtungen betrifft.

Immer mehr denke ich auch an die Betroffenen selbst. Was in einer Person vorgeht, die spürt, dass sie ihr Gedächtnis, ihre Vergangenheit, ihre Orientierung verliert. Vor einem Jahr hatte die ASAA die phantastische Helga Rohra eingeladen, die selbst Demenz hat und als Aktivistin die Krankheit „von innen“ erzählt. Mit Leichtigkeit und Humor und einer unendlichen Klarheit hat sie auch mir ein wenig von der Angst genommen, die das Thema in mir auslöst. „Die Krankheit kann man sich nicht aussuchen“, war ein Satz meiner Mama. Den Umgang damit schon.