»Unser Städtchen liegt …« (Teil 1)
Ein Dunkelraum – »aber unten bei Gregor war es finster«
Am 1. Dezember 1831 zeichnete Johann Peter Eckermann, enger Vertrauter Johann Wolfgang von Goethes und sein getreues Medium, eine Bemerkung des Dichterfürsten auf, die auf ein Gedicht des mit ihm befreundeten Schweizer Privatgelehrten Frédéric Soret Bezug nahm. Dessen Mitternacht, Teil einer Trilogie, habe dem »Meister« besonders gefallen, es sei »vorzüglich gelungen«: »Man atmet darin wirklich den Hauch der Nacht, fast wie in den Bildern von Rembrandt, in denen man auch die nächtliche Luft zu empfinden glaubt.« In der Folge kontrastiert Goethe diese Form der Poetologie mit Victor Hugos Arbeiten, in dessen nächtlichen Darstellungen es »nie wirklich Nacht« werde und »die Gegenstände immer noch so deutlich und sichtbar« blieben, »als ob es in der Tat noch Tag und die dargestellte Nacht bloß eine erlogene wäre«. Es handelt sich also um grundsätzliche Erörterungen, und man fragt sich, ob Franz Kafka die Eckermann’schen Passagen gekannt haben mag, als er die befremdende und angstbesetzte Lebenswelt seines metamorphotischen Alter Egos Gregor Samsa ausformulierte. In der Erzählung Die Verwandlung von 1912 ist der Aufenthaltsort des Protagonisten Gregor – »ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer« – ein zentrierender Raum, in den alle Zimmer der übrigen Handlungspersonen führen. Und dessen einziges, für den zum Insekten Verwandelten und rücklings im Bett Liegenden unerreichbares Fenster die alleinige Verbindung zur Außenwelt gewährleistet. In diesen klaustrophobischen Innenraum dringt, inmitten der »Abenddämmerung«, der »Schein der elektrischen Straßenlampen« – dieser »lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke und auf den höheren Teilen der Möbel, aber unten bei Gregor war es finster«.
Das Meraner Erscheinen des tüchtigen Versicherungsbeamten und weitgehend unbemerkten Literaten war, einer unfreiwilligen Epiphanie gleich, einer Laune des Schicksals geschuldet.
Als Franz Kafka Anfang April 1920 den Meraner Kurort, mit der Brennerbahn über Salzburg, München, Innsbruck und Bozen anreisend, erreichte, nahm er zunächst nur kurz Quartier im noblen Grand Hotel Frau Emma in Bahnhofsnähe. Die Kurlisten verzeichnen ebenso nüchtern wie penibel die Ankunft des Prager »Beamten«. Sie verschweigen: Das Meraner Erscheinen des tüchtigen Versicherungsbeamten und weitgehend unbemerkten Literaten war, einer unfreiwilligen Epiphanie gleich, eigentlich einer Laune des Schicksals geschuldet. Das Visum für den ursprünglich im oberbayerischen Partenkirchen geplanten Kuraufenthalt war aufgrund einer in Kraft getretenen »Fremdensperre« nicht zu erhalten gewesen. Aber für das gerade erst italienisch gewordene Meran – inmitten einer »heißen politischen Region« (Reiner Stach) gelegen – ließ sich erstaunlich einfach eine Einreisebewilligung besorgen. Was nun in den drei Monaten April bis Juni 1920 folgte, war eine Begegnung von Text und Geschichte eigener Art, und es ist für unsere Erkenntnis nicht ungünstig, dieses Beziehungsverhältnis einmal auf den Kopf zu stellen: Kafka ist dann gewissermaßen die Geschichte, und Südtirols Meran wird zu ihrem Text.
Der »manische Briefeschreiber« (Ulrike Kindl) teilte seiner Übersetzerin und nunmehrigen Vertrauten Milena Jesenská, verheiratete Pollak, in einem der vielen »Kreuz- und Querbriefe« aus dieser Zeit am 4. Juni 1920 in verzweifelten, beinahe endzeitlichen Worten mit: »Was für ein Land ist das! Du lieber Himmel, Milena, wenn Sie hier wären, und du armer denkunfähiger Verstand!« Dabei waren Kafka heroische Landschaften, die Alpen zumal, suspekt, weil sie ihm eher als dramatische Drohkulissen erschienen denn als bewohnbare Räume. Doch noch im Juni verlängerte er seinen Südtiroler Aufenthalt, gewiss aus gesundheitlichen Gründen, die jedoch stets wohl auch in existenziellen Stimmungslagen ihren Ursprung hatten. An den achtwöchigen Genesungsurlaub, von der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag ihrem langjährigen und hochgeschätzten Sekretär Kafka bereitwillig genehmigt, schloss dieser Anfang Juni noch zwei Wochen regulären Urlaubs an. Die grundsätzliche Umgebungsindifferenz Kafkas, die scheinbare Ohnmacht des ewig Zweifelnden, wirkt hier zumindest punktuell etwas durchlässiger und weniger opak.
Die Alchemien der Nacht stellten 1920 auch auf die Dunkelphase des historischen Moments ab.
Um gewissermaßen bei solch dichter Beschreibung zu bleiben, die sich aber von einer übermäßigen Psychologisierung der Vorgänge fernhalten will: Ab dem 6. April bewohnte Kafka ein Zimmer der Untermaiser Pension Ottoburg, gelegen an der Majastraße. Und er machte, wie es Reiner Stach unübertrefflich ausgedrückt hat, das fast ebenerdige, »stille« Gartenzimmer, das er zunächst begutachtet und dann belegt hatte, »zum Ort eines nie gekannten Rauschs«. Hier verdichtete sich die Erotisierung des Alltags in seiner und Milenas »Lust an Briefen«, einem Schriftverkehr der besonderen Art. Er, dem die Hinfälligkeit seines Schreibens – völlig zu Unrecht, aber man muss das nicht erst betonen – zeitlebens schmerzlich bewusst war, schrieb auch in Meran Angsttexte und Schreckensbriefe, und doch war er niemals Simulant und blieb auf gewisse Weise auch im Schrecken stets kokett, um die grandiose Terminologie aus Roland Barthes’ Le plaisir du texte, der »Lust am Text«, aufzunehmen.
Versetzen wir uns kurz in diesen Ortsteil, damals noch eigenständige Gemeinde, näherhin in die Pension Ottoburg am Abend, in eine von Kafkas vielleicht schlaflosen Nächten: Der »Schein der elektrischen Straßenlampen lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke und auf den höheren Teilen der Möbel, aber unten bei Gregor [d.h. Franz, A.d.V.] war es finster«. Im Jahr 1920 war Untermais, wiewohl Teil des Kurbezirks Meran und damit kleines Fragment eines größeren Fragments, noch selbstbewusste Gemeinde mit eigenem Bürgerverein und einem Turnerbund als typischen Insignien präurbaner Anspruchshaltung; das 1906 eingeweihte Rathaus in der heutigen Matteottistraße kündet auch baulich davon. Ebenso atmen zahllose Villen, Ansitze und Pensionen den halbstädtischen Geist einer sich nach und nach verbürgerlichenden Landgemeinde. Kurz nach Kafkas Aufenthalt, an der Jahreswende 1923/24, wurde der weitläufige Untermaiser Bezirk zusammen mit den Gemeinden Obermais und Gratsch durch Beschluss der faschistischen Administration zwangsweise nach Meran eingemeindet. Die Maßnahme erfolgte nicht zuletzt deshalb, um hier Expansionsraum für die auch in Meran geplanten Stadterweiterungsinitiativen des Regimes zu gewinnen.
Elektrische Straßenlampen waren 1920 auch in der Majastraße Teil des innerstädtischen Dekors; das städtische Elektrizitätsunternehmen der »Etschwerke« war von den beiden Bürgermeistern von Bozen und Meran Dr. Julius Perathoner und Dr. Roman Weinberger 1898 als wichtige Entwicklungsstufe der durchgreifenden Modernisierung der beiden Südtiroler Hauptstädte begründet worden. Die beiden Spitzenexponenten des liberalen und deutschnationalen Bürgertums zeichneten sich gleichermaßen durch innerweltliche Arbeitsaskese und Disziplin aus. Sie verkörperten damit, auch mit ihrem stolzen Verweis auf den adelnden Akademikertitel, geradezu idealtypisch den charismatisch-paternalistischen »Bürgerkönig« und dessen machtbewussten Anspruch, mit Maßnahmen »von oben« und als Stellvertreter des habsburgischen Regenten vor Ort die Leitsektoren Wirtschaft, Kultur und Welfare zu einer Urbanität von neuer Qualität zu verknüpfen.
Kafkas Motiv von Straßenlampe bzw. Straßenbahn lässt sich auch als Übersprungsbewegung auffassen.
Wir können uns also zumindest vorstellen, dass in Kafkas Ottoburger Pensionszimmer der abendliche Widerschein der elektrischen Straßenlampen drang. Aber in der Nähe verlief seit 1908 auch eine Trasse der Meraner Straßenbahn, die in der Valeriestraße, der heutigen Karl-Grabmayr-Straße, einen Haltepunkt aufwies. So ist es zumindest denkmöglich, wenn auch nicht realistisch (doch darauf kommt es bei Kafka nicht an), dass sich die Samsa-Metamorphose auch mittels eines Meran-Untermaiser Straßenbahnlichtreflexes gleichsam erneuerte. Es gibt von der Erzählung zwei Varianten der berühmten Zimmerpassage (»aber unten bei Gregor war es finster«), wie jüngst eine aufmerksame Studie von Adriano Sofri klug und detailliert herausgestellt hat. Die Ersetzung der »Straßenlampen« durch »Straßenbahn«, der Unterschied betrifft nur wenige Buchstaben, ist nach seinen Erkenntnissen mehr als das bloße Versehen einer Übersetzung bzw. Rückübersetzung, sondern womöglich eine von Kafka selbst – spät – eingefügte, hintersinnige Variation, die sich mit verwandten Briefstellen und Notaten des Tagebuchs in Einklang bringen lässt. »Meine Gefängniszelle – meine Festung«, hatte Kafka noch Ende Februar 1920 seinem Diarium anvertraut, und nur zwei Monate später dürfen wir ihn uns in einer zum halbasketischen Refugium gewordenen, abgedunkelten Pensionszelle in Meran-Untermais imaginieren.
Kafkas Motiv von Straßenlampe bzw. Straßenbahn lässt sich im übertragenen Sinn auch als Übersprungsbewegung auffassen. Es handelt sich also beileibe nicht um ein irrelevantes Leerlaufgeschehen, und das damit eingeführte Thema der Nacht verweist nachdrücklich auf die metamorphischen, gestaltwandelnden, außeralltäglichen Qualitäten des Grenzbereichs von Dunkelheit und Licht. Besonders seit der Romantik, vor allem aber Mary Shelleys Science-Fiction-Roman Frankenstein or The Modern Prometheus von 1818 und Edgar Allan Poes düsteren Schauergeschichten, war der darkspace in literarischen Diskursen zur bedeutsamen Chiffre der modernen condition humaine aufgerückt. Die Rätsel von Dämmerung und Dunkelheit wurden insbesondere Teil der Erfahrungs- und Lebensumwelt moderner Städte, und ihre hermetische Semantik hat mit den »Night Studies« eine eigene Forschungsdisziplin an der Schnittstelle von Soziologie, Ästhetik und Stadtforschung hervorgebracht.
Die Alchemien der Nacht stellten 1920 auch auf die Dunkelphase des historischen Moments ab, auf das, was hinter der bürgerlichen Idylle Merans just in diesem partikulären Moment an weiteren Dimensionen – für den Genius Kafka – durchaus spürbar war. Vor seinem existenziellen Hintergrund rangierte dies wohl innerhalb von Kategorien des nur sehr bedingten Interesses, doch wir können ihn uns – und wenn es nur erkenntnisfördernd sein sollte – als stummen und vordergründig teilnahmslosen Beobachter, aber doch hochsensitiven Anwesenden der Südtiroler und Meraner Ereignisse im Frühjahr 1920 vorstellen. Einer, der – wie seine Briefe an Milena bezeugen – oftmals kaum schlafen konnte, der »zu leicht für Schlaf« war. Einer, der im August 1920, nach dem schlussendlichen Treffen und Zusammensein mit Milena in Wien, auf die Wendung »Angelegenheit der Nacht« zurückgriff. Einer, der die unheimliche Dialektik von Tag und Nacht sogar vormittags, »halb in Sonne halb im Schatten«, ihr gegenüber eindringlich beschwor – der grandiosen Übersetzerin und Journalistin und späteren antifaschistischen Widerstandskämpferin Milena gegenüber, der 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück Verstorbenen und 1994 als Gerechte unter den Völkern Geehrten.
(Teile 2 und 3 folgen)