Politics | Coronavirus

Der Virus kann die Demokratie stärken

Die Demokratie könnte aus der Krise als Siegerin hervorgehen. Doch nur, wenn die Politiker endlich beginnen den Einsatz der Bürger ernst zu nehmen und nicht zu belächeln.
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Foto: @enginakyurt

Tausende Tote, die Weltwirtschaft und die Aktienmärkte stehen vor einem Scherbenhaufen, ein bitterer, oft hysterisch geführter Kampf gegen einen unsichtbaren und parteilosen Feind. Doch die Krise, die gerade den gesamten Globus in Atem hält, hat auch andere, positive Nebeneffekte. Seit Wochen beteiligt sich die Mehrheit der Bevölkerung wieder an politischen Debatten. Ein Blick darauf, wie wir im Ausnahmezustand mündig wurden. Ein Blick darauf, wie diese Mündigkeit - ein weiteres Mal - zu verstummen droht. 

„Wie geht es weiter?“ Eine Frage, die in diesen Tagen nicht nur die obersten Politiker Südtirols umtreibt, sondern alle. Unternehmende, deren Existenz auf dem Spiel steht, Lehrer, Eltern. Selbst Schüler, denen abgesehen von der Klimaeuphorie gerne stupides Desinteresse vorgeworfen wird, stellen sie sich. Wie geht es weiter? Welche Maßnahmen sind nun notwendig, welche riskant, welche ganz sicher überzogen, unangebracht und kontraproduktiv? Man blickt auf das eigene Leben und auf die Gesellschaft, deren Teil man ist, sucht nach Informationen und nach Lösungen.

Eng gekoppelt mit all diesen Fragen ist ein weiteres Phänomen der letzten Wochen, nämlich das Aufflammen einer neuen, rationalen und auf Wissenschaft bassierenden Diskussionskultur. Sei es auf der großen Bühne zwischen Verantwortlichen der Regierungen oder Gesundheitsexperten. Sei es in Foren, auf Social Media, Twitter oder Youtube. Selbst in der Familie, dem Grundbaustein der Gesellschaft, werden Positionen und Sichtweisen ausgetauscht und diskutiert. Es werden vermehrt Nachrichten konsumiert, wissenschaftliche Studien gelesen, Videos zum Virus in der familieneigenen WhatsApp-Gruppe geteilt.

„Postdemokratie“ ausser Kraft gesetzt

Diese Diskussionen und dieser Einsatz sind etwas ganz und gar Untypisches für die Zeit, in der wir leben. Eine Zeit, in der politische Debatten mehr Schein als Sein geworden sind, da vor allem Eliten, ausgewählte Kreise aus Wirtschaft und Politik, den Ton angeben. Und dies nicht nur in Südtirol. Es ist eine Zeit, in der es keine klaren politischen Diskussionen mehr gibt, weil weder Rechts noch Links es sich leisten können, klare Positionen einzunehmen. Eine Zeit, in der vorzugsweise der Status quo erhalten wird. Eine Zeit, welche der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch „Postdemokratie“ nennt. Die Postdemokratie – so Crouch – ist geprägt von demokratiemüden Bürgern, die mehr und mehr einsehen, dass politischer Einsatz zu nichts und wieder nichts führt, da politische Strukturen veraltet, verrostet und in vielen Fällen sogar demokratiefeindlich sind. Eine Zeit, in der die Bürger eine passive, schweigende, ja apathische Rolle einnehmen. 

Diese Zeit scheint gerade – für einen Bruchteil der Geschichte – außer Kraft gesetzt zu werden. Wenn wir Crouch glauben wollen, so wird der Zustand der Postdemokratie in einer ganz bestimmten Situation aufgehoben: in enormen Krisen. Crouch spricht wörtlich von jenen Momenten, in denen die Führungskräfte „auf dem falschen Fuß erwischt werden“. Viel treffender kann man die aktuelle Coronakrise und die überforderten Regierungen – und hier ist Südtirol keine Ausnahme, sondern viel mehr Paradebeispiel – nicht beschreiben. 

Paradoxerweise wollen Bürgerinnen und Bürger sich genau dann in der Gesellschaft engagieren, wenn diese Gesellschaft ein gewaltiges Problem hat. Im aktuellen Fall einen mikroskopisch kleinen Krankheitserreger. 

Der Virus ist parteilos

Ein Hauptgrund, wieso sich in diesem Ausnahmezustand mehr Personen einsetzen als sonst, ist jener, dass der Erreger – so hochinfektiös und verachtet er auch sein mag – eines nicht ist: er hat kein Parteikärtchen, ist weder links noch rechts eingestellt, muss keine fragwürdigen Programme hinter dem Rücken der Wähler durch den Landtag schwindeln. Spricht weder Russisch noch einen fiesen osttexanischen Akzent. 

Weil das Problem parteilos ist, beteiligen sich mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger aktiv an politischen Debatten, die mehr sind als nur das Treiben auf seichten Populismuswellen. Es sind Diskussionen mit Tiefgang und Vorsicht, in denen man die Komplexität der Problematik anerkennt, sich dementsprechend ausreichend informiert und auf Grund der eingeholten Informationen Entscheidungen trifft und sich eine Meinung bildet. Dies ist, dies sollte die Grundessenz der Demokratie sein. Die Parteien, die in den letzten Jahrzehnten das Gegenteil dessen erreicht haben, was sie zum Ziel haben sollten – nämlich so viele Menschen wie möglich einzubeziehen – treten für einmal in den Hintergrund.

Der demokratische Einsatz muss belohnt, nicht belächelt werden

Mit dem Einsatz, dem Engagement, mit der Beteiligung an Diskussionen und Debatten, welche die Gesellschaft betreffen, steigt automatisch auch das Zugehörigkeitsgefühl, der Sinn für die Gemeinschaft, für Solidarität, für Fairness. Weitere unverzichtbare Elemente in einer Demokratie.

Dieses Zugehörigkeitsgefühl, diese Solidarität gilt es zu nutzen. Nicht auszunutzen.

Und so appelliert der israelische Philosoph Yuval Noah Harari in einem Artikel vom 03. April in der Financial Times nicht umsonst an die Politiker aller Länder, die – so Harari – in den letzten Jahren unverantwortlich das Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden und in die Politik, in wissenschaftliche Studien und in die Medienwelt untergraben hätten. In normalen Zeiten lasse sich dieses Vertrauen nicht so einfach über Nacht wieder kitten. Doch gerade hier liegt auch für Harari der entscheidende Punkt: es herrschen im Moment schlichtweg keine normalen Zeiten. 

Harari zufolge liegt es nun an den Führungskräften, mit objektiver Berichterstattung, mit transparenten Entscheidungsketten und mit ehrlicher Rücksicht auf die Interessen der Bürger, Vertrauen wiederherzustellen. Den demokratischen Einsatz zu belohnen, nicht zu belächeln. Dies sollte auch im Interesse der Südtiroler Politiker liegen. Tut es aber scheinbar nur begrenzt.

Passiert dies nicht und wird das demokratische Engagement der Bevölkerung nicht wertgeschätzt, so ist der Schaden für die Demokratie gleich doppelt hoch. Denn er trifft Bürger, die sich einsetzen, die mitreden wollen, die Teil sein wollen. Und die genau jetzt nicht ernst genommen werden und deren Stimmen auf taube Ohren treffen. Die jüngste Affäre um Herrn Zerzer und mangelhafte Schutzmasken sind genau ein solches negatives Beispiel.

Solche undemokratischen Entscheide zerstören das Vertrauen in Meldungen, in sogenannte Experten und in Führungspersönlichkeiten ein für alle Mal. Ohne dieses Vertrauen kann und will sich der Bürger nicht informieren. Zu wertvoll ist ihm die eigene Zeit. Vielmehr wird er sich wieder aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und die Entscheidungen anderen Wenigen überlassen. Er wird seine Mündigkeit erneut opfern und sich aus der Verantwortung nehmen. Ohne dieses Vertrauen wird er seine Bürgerpflicht, sich zu informieren, wieder aufgeben. Ohne dieses Vertrauen kehren wir schnell wieder zurück in die Dunkelheit der Postdemokratie und in die erdrückende Stille der Meinungslosigkeit.