Roland Benedikter: "Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa"
Suggerieren die Themen, die aus Europa kommen, nicht vor allem Verwaltung und Bürokratie statt Auseinandersetzung mit den Fragen der Zivilgesellschaft?
Leider. Und das erzeugt in der europäischen Bürgerschaft, sofern es eine solche gibt, Unmut, weil sie viel zu oft die EU als Bürokratisierungseinrichtung wahrnehmen muss, die mit Verwaltungswut eigentlich nur Machtlosigkeit kaschiert. Letzteres ist auch das Grundproblem des Europaparlaments. Es kann die Regierung Europas nicht wählen und sie auch nicht absetzen, so wie ein normales Parlament, und es hat nur Absegnungsqualitäten gegenüber den Vorschlägen der Kommission, kann aber selber wenig bewirken. Außerdem ist es kompliziert zusammengesetzt, sehr heterogen und wird dementsprechend von vielen Bürgern eigentlich nicht durchschaut.
Wird also Politik durch Bürokratie ersetzt?
Ja. Das Problem ist gerade, dass in Europa bislang eine echte gemeinsame politische Ebene fehlt; dafür ist ein riesiger Beamtenapparat entstanden, der kaum politische Leitlinien hat außer denen der Kommission. Noch schlimmer ist, dass diese Beamten, die nicht gewählt sind, keine Politiker sind und daher andere Kriterien an Entscheidungsprozesse anlegen, von Brüssel aus indirekt Weltpolitik machen. Die „unpolitische“ Bürokratie der EU ist, wie Helmut Schmidt und Gerhard Schröder richtig hervorgehoben haben, entscheidend mitverantwortlich für die derzeitige Situation in der Ukraine, weil man von Brüssel aus versucht hat, die Ukraine an sich zu ziehen mittels bürokratischer Regulierungen und Abkommen, ohne dass die Politik hier wirklich strategisch gestaltet hat. Dadurch entstand, ohne dass das jemand richtig wollte, für die Ukraine die Wahl, entweder zu Europa oder zu Russland zu gehören. Diese Wahl ist aber unmöglich, weil die Ukraine rein geopolitisch nicht zur EU gehören kann; sie muss gerade in Zeiten der „Rückkehr der Geographie als weltpolitischer Faktor“ (Robert Kaplan) ein Mittlerstaat zu Russland sein und wird sich dieser Rolle nie entledigen können, einfach wegen ihrer geographischen Lage. Europäische Bürokraten handelten hier aus einer undiplomatischen Mentalität heraus, sie starteten Programme und Abkommen, die politisch nicht ausgewogen sind und nicht die Interessen Russlands berücksichtigen. Diese Schlagseite in Richtung Bürokratie in Brüssel ist weltpolitisch gesehen ein Unding und ersetzt derzeit leider ein gemeinsames strategisches Bewusstsein Europas.
Wie beurteilen Sie die derzeitigen Bemühungen etwa des deutschen Außenministers Frank Walter Steinmeier, der im Sinn der EU versucht, die Ukraine-Krise zu managen?
Steinmeier versucht das Mögliche, aber er kehrt aus Kiew permanent mit leeren Händen zurück, weil er allein und ohne echte Gemeinschaftsdeckung auftritt. Er spricht aus der Sicht Russlands nicht wirklich für Europa, sondern eher für Deutschland. Das ist die Krux: die außenpolitische Zersplitterung Europas, die mittlerweile unter anderem wegen der Sonderbeziehung Deutschlands zu China auch zu einer Gefährdung des transatlantischen Bündnisses mit Amerika führt. Wenn Europa sich weltpolitisch beweisen will, dann nur über eine gemeinsame effiziente Regierung. Effizient und vor allem legitim kann diese nur sein, wenn sie aus dem europäischen Parlament hervorgeht.
Was muss geschehen, damit es zu einer solchen gemeinsamen europäischen Regierung kommt, die politisches Gewicht hat?
Aus meiner Sicht geht der Weg dahin in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa. Ich weiß, dass das viele skeptisch sehen, etwa der Kandidat für den europäischen Regierungschef-Posten Jean-Claude Juncker. Zwar sagen die maßgeblichen europäischen Politiker wie Juncker und Schulz, Europa soll ein eher loses Staatenbündnis bleiben, wie es dem Motto der EU: „in Vielfalt geeint“ entspricht. Das ist gut und recht, aber so kann es langfristig kaum bleiben. Europa ist wegen dieser Strategie mittlerweile mindestens dreifach zerbrochen: erstens, zwischen kontinentalen und peripheren EU-Staaten, wie die Abwendung Großbritanniens unter Premier David Cameron zeigt. Die zweite Bruchlinie ist die zwischen Euro- und Nicht-Eurostaaten. Und die dritte jene zwischen den Binnenländern der Eurozone, also zwischen den Euro-Gewinnerländern im Norden: Deutschland, Österreich und den Niederlanden einerseits, und den Verliererstaaten des Euro, den südeuropäischen Staaten andererseits. Diese können sich dieselbe Währung wie der Exportweltmeister Deutschland langfristig ohne Angleichung von Innovationsniveau, Lohnstückkosten und Wettbewerbsfähigkeit nicht leisten. Dieser dreifache Bruch kann auch durch die Europa-Wahlen nicht überwunden werden, aber ich hoffe, dass er nach und nach besser ins Bewußtsein aller EU-Staaten rückt, auch jener, die ihn heute noch verdrängen.
Wo liegt die Perspektive?
Mein Vorschlag ist ganz einfach, und gerade deswegen so schwer durchzusetzen. Es ist im Grunde derselbe Vorschlag, den die USA und andere Verbündete machen, ja machen müssen, weil es keine Alternative gibt: Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa. Es müssen nicht die Vereinigten Staaten von Amerika sein; im übrigen geht es in den USA jetzt auch umgekehrt mehr in Richtung Regionalisierung und Föderalisierung. In Amerika erleben wir gerade eine Autonomisierung der einzelnen Bundesstaaten; die wollen unabhängiger von der Zentralregierung werden. Ich lebe in Kalifornien, einem Staat mit Erdölförderung vor den Küsten. Ein Großteil der Einkünfte bleiben im Bundesstaat, und nur einen Teil gibt man an Washington ab. In Louisiana hingegen, wo viel mehr Öl gefördert wird, muss ein Großteil der Einkünfte an die Zentralregierung abgegeben werden, die Südstaaten der USA werden bis heute vielfach wie Kolonien behandelt; Lousiana und andere Staaten rebellieren daher heute, und mit guten Erfolgsaussichten. Während also Amerika auf dem Weg zur Differenzierung ist, wäre in Europa die umgekehrte Richtung notwendig: größere Einheit, was nicht unbedingt Zentralismus bedeuten muss, wie wiederum das Beispiel USA lehrt.
Trotzdem ist in Europa das Argument der Besinnung auf die Regionen derzeit sehr stark. Kann das nicht ein Weg sein, um den Zersplitterungen des nationalstaatlichen Konzepts zu entgehen?
Ich halte viel von der Regionalisierung, und sie entspricht auch einem globalen Trend in der heutigen Nach-Krisenphase, die von einer Tendenz zur „Entglobalisierung“ gekennzeichnet ist. Aber dass sie das Allheilmittel gegen die Probleme europäischer Nicht-Einigkeit ist, glaube ich nicht. Die Zukunft liegt in einer gemeinsamen europäischen Regierung, die den Namen auch verdient. Ich habe vor einiger Zeit mit Kurt Biedenkopf, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Sachsen und Mitarchitekten der deutschen Einheit, ein langes Gespräch gehabt; seiner Meinung nach versucht Europa das Prinzip der Einheit in der Vielfalt zu verwirklichen, mit den drei Ebenen der Staatengemeinschaft, der einzelnen Nationalstaaten und dann noch der Regionen. Strategen wie Biedenkopf sind sich bewusst, dass ein solches Experiment neuartig in der Menschheitsgeschichte ist, das hat es nie gegeben, und Europa ist der einzige Kontinent, der ein so kompliziertes Arrangement versucht. Biedenkopf und ich sind uns einig, dass die meisten anderen Weltmächte wie Amerika und China glauben, das könne nicht funktionieren, weil es aus ihrer Sicht viel zu kompliziert ist und auch zu viel Verwaltungsaufwand kostet. Europa ist daher heute der weltweit am wenigsten verstandene Kontinent. Trotzdem macht das Experiment Sinn, denn die „Einheit in der Vielfalt“ wird zwangläufig auch das Arrangement einer immer schneller wachsenden und zusammenwachsenden Menschheit sein müssen. Europa macht hier nur vor, was die ganze Welt erwartet – und was zum Beispiel China nach innen ebenfalls versuchen wird müssen mit seinen 56 Ethnien.
Was also tun?
Wir müssen das nationalstaatliche Denken überwinden. Dazu müssen die einzelnen Staaten nach und nach gewisse Kompetenzen abgeben. Es muss dringend eine gemeinsame europäische Außenpolitik gesucht werden, und es sollte weniger Sonderbeziehungen von Einzelstaaten nach aussen geben, die das Projekt gemeinsamer EU-Beziehungen dann wieder unterlaufen. Vor allem müssten wir, wenn es ein europäisches Bewußtsein geben soll, viel öfters wählen, nicht nur alle fünf Jahre. Das Europaparlement sollte alle drei Jahre gewählt werden, es sollte im Prinzip das in der Öffentlichkeit präsenteste Parlament Europas sein, und das kann man unter anderem mit kürzeren Amtszeiten erreichen. Aber das kostet aus Sicht der heutigen Regierungschefs wohl zu viel.