Culture | Salto Weekend

Vielschichtige Vernetzung [2]

Über poetische Ausflüge ins Überetsch, Kuraufenthalte in Riva del Garda und Lieblingsbäume. Ein kulturhistorischer Streifzug mit Zug und Seilbahn - direkt in die Kunst.
Birke2
Foto: Artur Nikodem

Bahnbrechende Erlebnisse

Ein Künstler, der ab 1908 regelmäßig Meran und das Burggrafenamt aufsucht, ist der Dichter Christian Morgenstern. Er ist allerdings nicht wie sein Vater und sein Großvater als Landschaftsmaler tätig, sondern widmet sich als Schriftsteller der Wort- und Lautmalerei. Im Juli lernt der Poet im Eisacktaler Bad Dreikirchen bei Klausen Margareta Gosebruch von Liechtenstern kennen und lieben, die er zwei Jahre später in Meran heiratet. Nach nur vier Jahren Ehe verstirbt Morgenstern in Meran/Obermais, nur wenige Wochen vor seinem 43. Geburtstag und in den Armen des bekannten Kurarztes Christoph Hartung von Hartungen. Morgenstern hinterlässt nicht nur grandiose Reime und seine berühmten Galgenlieder, sondern auch zwei weniger bekannte Gedichte: Der Steg, erdacht in Eppan für seine große Liebe Margareta, und Überetsch, mit dem er einer kleinen Lokalbahn und dem dazugehörigen Landstrich bei Bozen ein Denkmal setzt.

Überetsch

Ich schaue von der Brücke aus das Gleis
den Berg erklimmen, den wir jüngst besucht.
 Mit leisem Plätschern zieht der Fluss ...

Ein Pfiff. Ein Dröhnen. Und von oben rollt
ein Zug in unbeholfnem Trott herab.
 Mit leisem Plätschern zieht der Fluss ...

Ja, dort, in solchem Zug auch, fuhren wir
unlängst – und unsrer Trennung Stunde zu.
 Mit leisem Plätschern zieht der Fluss ...

Ich sehe dich im engen Wagenraum
mir gegenübersitzen, fast verstummt ...
 Mit leisem Plätschern zieht der Fluss ...

Nun ist er fort, der kleine Zug, auch er –
Ich stehe auf der Brücke, sinne noch ...
 Mit leisem Plätschern zieht der Fluss ...

So rollt vorüber Zeit und Los und Liebe –
Nein – Liebe nicht! Sie nicht! Oh Herz! Sie nicht! ...
 Mit leisem Plätschern zieht der Fluss ...

Mit der Überetscherbahn, gebaut 1898, gelangt man von Bozen über Eppan nach Kaltern. 1903 wird die Zahnradbahn von St. Anton/Kaltern auf den Mendelpass eröffnet, die von der Weinlandschaft direkt an die Sprachgrenze führt, ins Hochplateau des Valle di Non.
Bis in den Ersten Weltkrieg hinein kommen im alten Tirol noch zahlreiche Bahnverbindungen hinzu – ab 1907 die Rittnerbahn (Bozen–Klobenstein), 1908 die Taufererbahn (Bruneck–Sand in Taufers) oder im Trentino die Ferrovia dell’Alta Anaunia von Dermulo zum Mendelpass, die Bahn von Trento nach Malé im Jahr 1909 oder die Mittenwaldbahn (Innsbruck–Garmisch–Reutte). 

Zauberberge

Die bereits 1891 eröffnete Lokalbahn Mori–Arco–Riva führt über den San-Giovanni-Pass absteigend zum Bahnhof Nago-Torbole direkt an den Gardasee, dem Sehnsuchtsort vieler Künstler, die sich im Fin de Siècle hier eine Auszeit gönnen. Der Kulturwissenschaftler Willi Jasper vermutet in seinem vielbesprochenen Buch Zauberberg Riva (2011), in Riva könnte sich tatsächlich vieles von dem abgespielt haben, was Thomas Mann Jahre später in seinem bekannten Bildungsroman Der Zauberberg in Davos ansiedelt. Mann ist erstmals 1901 in Riva und Gast im bekannten Sanatorium von Christoph Hartung von Hartungen, „er sammelte Eindrücke für seine Novellen Tristan, Tonio Kröger und Tod von Venedig“ und „atmosphärische Anregungen und Charakterbilder, die später im Zauberberg Verwendung finden sollten“, dem 1924 erschienenen Bestseller. Hartungen hat das Sanatorium 1888 gegründet und behandelt im Lauf der Jahre viele illustre Gäste, so auch Thomas Manns Bruder Heinrich, Franz Kafka, Max Brod, die Maler Hans Lietzmann, Franz von Defregger, Max Oppenheimer, die Malerin Hermione von Preuschen, natürlich auch Christian Morgenstern. Bis 1914 ist Riva ein „vibrierendes Laboratorium, in dem man sich mit den beruhigenden Erfahrungen der Vorkriegsmoderne auseinandersetzte“, schreibt Jaspers. 

Der Kurarzt Hartungen hat für die heißen Sommermonate unweit von Meran ein weiteres und gut funktionierendes Dorado für kränkelnde Großstädter geschaffen: Bad Mitterbad im Ultental. Von Lana aus erreicht man das heute verfallene Heilbad in rund zwanzig Fahrminuten. Die Reise führt direkt an der Talstation der Vigiljochbahn vorbei, die Ende August 1912 ihre erste Fahrt unternommen hat.


Die Meraner Zeitung berichtet wenige Tage später darüber und geht ausführlich auf die Eröffnungsschrift ein: „Die hübsch ausgestattete Schrift wurde gedruckt von der Buch- und Kunstdruckerei S. Pötzelberger (F. W. Ellmenreich) in Meran“ – für die bereits Artur Nikodem illustriert hat. „Den Umschlag der Festschrift ziert ein Vierfarbdruck, das Vigiljoch-Kirchlein darstellend, der nach einem Original von H. Weber hergestellt wurde. […] Erwähnt sei noch, daß die Vigiljochbahn auch eine Serie äußerst stimmungsvoller Ansichtskarten nach Entwürfen von H. Weber-Tyrol (München) herausgegeben hat, die gewiß viel zur Propaganda für die sehenswerte Bahn beitragen.“ 
Der genannte Künstler, der mittlerweile den Topos „Tyrol“ an seinen Nachnamen gebunden hat, gestaltet auch die Plakate zur Schwebebahn und hat bereits 1911 von der Vigiljochbahngesellschaft den Auftrag für drei große Wandelhallen-Gemälde im Nachbarort Meran erhalten – technisch wie gestalterisch eine Herausforderung für den Künstler. 
1912 kommt es auch zur großen Ausstellung Weber-Tyrols im Innsbrucker Ferdinandeum. Unter den vielen Motiven findet der Kritiker Josef Weingartner auch bildhafte Blicke zu Weber-Tyrols Zauberberg, dem Vigiljoch. 
Im selben Jahr entsteht Artur Nikodems erstes Birkenbild. 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

„Das Bild muss eine Struktur haben, wie es beim ältesten Holzschnitt gehalten wurde“, schreibt Weber-Tyrol in seinen Notizen, „die Wolken u. Nebel sind die Freunde und Genossen der Berge, das erlebte ich soviel z. Bsp. am Gantkofel.“ 
Die beeindruckende Bergkante des Gantkofel sah Weber-Tyrol markant vor sich stehen, wenn er von seinem zwischenzeitlichen Refugium in St. Georgen/Schenna aus gegen Süden blickte. Daneben mag sein Blick ab und zu auf das Vigiljoch und die Schwebebahn gefallen sein oder hinunter auf Tscherms, Marling und Meran und hinein in den Vinschgau. Diese Südtiroler Orte waren sein Einstieg in den Süden gewesen. Die letzten Jahrzehnte bis zu seinem Tod wohnte Hans Weber-Tyrol mit seiner zweiten Ehefrau Christine Matscher am Fuße des Gantkofel, in St. Michael/Eppan.
Nikodem blieb in Innsbruck sesshaft. 1931 gestaltete auch er – wie Weber einst – ein Seilbahnplakat für die Patscherkofel-Pendelbahn. Beide vereinte zudem, dass sie in vielen ihrer Bilder der Wirksamkeit des Baumes ihre künstlerische Aufmerksamkeit schenkten, ob der Lärche, der Buche, den Pappeln oder den Föhren. Während bei Nikodem das am häufigsten verwendete Baummotiv die Birke war, fand sich bei Weber-Tyrol in jungen Jahren häufig die Pinie, zum Lebensabend vermehrt die Zypresse.


Auch das Wasser in seiner Klarheit und in den verschiedensten Farbabstufungen zog beide Künstler magisch an. Ob der kleine Bergsee oder der große Gardasee, Nikodem und Weber-Tyrol beobachteten vom Ufer aus und bannten das Seetreiben auf die Leinwand.
Immer wieder stellten sie gemeinsam aus und tauschten sich aus. Vielleicht erinnerten sie sich auch an eine lustige Begebenheit anlässlich der großen Jubiläums-Kunstausstellung in Innsbruck im Herbst 1909, als Artur Nikodem laut einer Zeitungsmeldung in den Innsbrucker Nachrichten vom 18. Mai „es übrigens leider versäumt hat, eine größere Anzahl von seinen Sachen der Ausstellung einzuschicken“, während mit „reichster Bilderzahl […] Hans Weber (München) vertreten“ war. 


Die wohl letzte Tiroler Kunstausstellung vor Kriegsbeginn fand in den Sommermonaten 1914 in Marienbad in Westböhmen statt. Mit dabei waren Alexander Koester mit erstklassigen Entenbildern, Egger-Lienz mit dem Bild Sämann und Teufel, Franz Defregger mit einer Blondine, sowie „der bedeutende Landschafter Hans Weber aus München“, der mit „drei Bildern von packender Natur- und Lichtwirkung vertreten ist“. Der Artikel zur Ausstellung erschien in den Innsbrucker Nachrichten am 25. Juli. Nur drei Tage später kam es zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. 
Danach ist die Welt eine andere. Auch die Kunstwelt.