„nicht unbedingt gespiegelt sehen“
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SALTO: Frau Aichner, mit dem Text zum Bergsteigerlied, dem "Cantico delle Creature" des Franz von Assisi und einem mittelhochdeutschen Liebeslied von Oswald von Wolkenstein werden die Themenfelder Heimat, Religion und Liebe abgedeckt. Braucht es Umschreibungen in diesen Bereichen besonders?
Eeva Aichner: Die Fragen, die wir stellen möchten, sind: Welche Relevanz haben diese drei identitätsstiftenden Themen - Glaube, Heimat und Liebe - sowohl was die eigene Identität als auch die einer Gruppe anbelangt. Wo sind die Kontinuitäten, vom Mittelalter bis in die Gegenwart und wo sind Unterschiede? Das sind große Themenbereiche. Historisch und gesellschaftlich ist seit der Erstveröffentlichung der Texte einiges passiert. Es gibt jetzt zum Beispiel Stimmen, und vielleicht bin ich auch so eine Stimme, die sagen, ein Heimatbegriff in einem restriktiven Sinne ist eigentlich überholt. Gleichzeitig ist das aber für viele Leute nach wie vor ein Thema. Uns interessiert das. Wir wollen da unsere politischen oder gesellschaftlichen Positionen nicht unbedingt gespiegelt sehen, sondern am liebsten ein Spektrum von allem, was in der Gesellschaft existiert. Wir hoffen auf verschiedene Positionen, die auch literarisch auf verschiedene Art und Weise umgesetzt sind. Wir freuen uns auf eine möglichst große Vielfalt an Umschreibungen dieser kanonischen Texte.
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Ihr wählt den Begriff „Umschreibung“. In der Literaturwissenschaft wird häufig gestritten und getrennt nach Nachdichtungen, Umdichtungen, Rewriting. Wie weit oder eng steckt ihr den von euch gewählten Begriff?
Weit! Im Grunde ist alles erlaubt. Es sollte irgendwo ein Bezug zum Ausgangstext bestehen. Der Titel der diesjährigen Halbmittag-Reihe, Umschreibungen, ist mehrdeutig. Man kann etwas umschreiben oder umschreiben. Der Ausgangstext kann übersetzt oder affirmiert werden, die Umschreibung kann eine Abgrenzung, eine Polemik oder eine Weiterdichtung sein. Es geht darum, den Text in irgendeiner Form in die Gegenwart zu holen.
Und was schuldet eine Umschreibung dem Original noch? Sollte man mit gemeinfreien Texten anstellen können, was man will?
Vielleicht, dass man ihn zitiert, dass man die Referenz transparent macht. Also, auch wenn man sich von etwas abgrenzt, dann kann man doch seinen Weg – oder Umweg – dorthin zeigen und erklären, wie man zu etwas gekommen ist. Vielleicht schuldet die Umschreibung dem Original also die Anerkennung als Ausgangspunkt. Sonst gar nichts.
Eure Ausschreibung hat ein Motiv in Pixeln begleitet. Ist darin eine Marketenderin zu erkennen oder denke ich zu viel an Heimat?
Nah dran, aber ich lüfte das Geheimnis nicht. Dafür muss man im September in der Teßmann vorbeikommen und darf bis dahin kreativ interpretieren, was im Verborgenen, beziehungsweise im Verpixelten liegt.
Hat es bislang schon Zusendungen gegeben? Welcher Text war als Ausgangspunkt am beliebtesten?
Ja, es hat schon Zusendungen gegeben und wie wir vermutet haben, regt der Heimattext, „Wohl ist die Welt so groß und weit“ am meisten zu Umschreibungen an. Wir hoffen, dass der Zulauf sich auf alle Texte verteilt und wollen auch darauf hinweisen, dass es nicht verboten ist, mehrere Umschreibungen einzureichen. Eine möglichst große Vielfalt, sowohl an Positionen als auch an Sprachen, wie auch bei den sozioökonomischen Hintergründen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wäre für uns ein Erfolg. Unser Ziel ist es, Diskussionen anzuregen.
Will man diesen Aspekt stärken?
„1/2 Mittag“ ist nicht nur ein Leseformat mit Café und Brioches, sondern auch ein Diskussionsformat. Bislang folgte auf die Lesung von Autorinnen und Autoren immer ein Gespräch mit einem Moderator oder einer Moderatorin. Um das Format noch weiter zu öffnen, nicht nur in der Teilnehmer:innen-Suche, sondern auch auf der Diskussionsebene, möchten wir die Diskussion auch dem Publikum öffnen. Es dürfen also auch Fragen gestellt werden.
Sie haben schon mehrfach angesprochen, dass Ihr auf ein gewisses Spektrum hofft. Ist das dann am Ende auch irgendwo darüber entscheidend, wer geladen wird? Oder muss man nach kaum objektiveren Kriterien wie literarischer Qualität vorgehen?
Es spielt beides eine Rolle. Wie Sie schon angedeutet haben, ist auch literarische Qualität ein subjektiver Maßstab. Wir werden auf jeden Fall versuchen, geschlechtergerecht zu sein, falls wir überhaupt die Wahl bekommen. Wenn Texte bezüglich der „literarischen Qualität“ vergleichbar sind, dann werden auf jeden Fall auch sprachpolitische und geschlechtergerechte Maßstäbe angewandt. Die Auswahl wird von Matthias Vieider und mir getroffen, doch da die Reihe eine Kooperation der SAAV und der Teßmann ist, haben wir dort glücklicherweise Ansprechpersonen für alle Zweifelsfälle.
Die Teilnahme-Informationen sind hier verlinkt. Die Ausgangstexte findet hier, wer sich inspirieren lassen möchte und auch wer das Original prinzipiell besser findet. Teilnahmeschluss für die Open Call ist der 7. Juli. Eine möglichst große Sprach- und Altersvielfalt sind erwünscht.